Die letzte Zuflucht vor der Straße: Das Hochhaus aus den 1960er Jahren im Frankfurter Westen nimmt die Menschen auf, die in Sozialsiedlungen nicht mehr geduldet werden.
Der achte Höllenkreis ist in den 1960er Jahren errichtet worden. Er misst acht Stockwerke, blaue und rote Farbquadrate unterbrechen das Grauweiß seiner Fassade. Auf dem Dach wächst ein Wald von Mobilfunkantennen. Darunter stapeln sich 60 Einzimmerwohnungen. Schreie der Aggression und der Verzweiflung gellen aus ihnen in die Nacht hinaus. Wenn es tiefer nicht mehr geht, dann landest du hier.
Die Lebensgeschichten der Bewohner versammeln sich in Einraumwohnungen von 20 Quadratmetern Größe. Jeder hat sich dort auf seine Weise ein Zuhause geschaffen, mit Wohnlandschaften aus Sperrmüll, Pappkartons oder Bücheregalen als Schlafnischenwand. Dafür zahlt die Stadt 5 Euro pro Quadratmeter Miete.
Die Mieter sind zu rund 70% Männer, im Durchschnitt 54 Jahre alt. Viele haben das Gefängnis von innen kennengelernt. Etliche lebten Jahre auf der Straße, gefangen in einem Käfig der Sucht und der psychischen Qual. Sie haben anderen und sich selbst Leid zugefügt. In Sozialsiedlungen werden sie nicht mehr geduldet, sie brauchen betreuende Beobachtung und sind deshalb hier in den gestapelten Wohnzellen gelandet. „Eine Etage, 25 Jahre Knast“, sagt einer.
Im achten Höllenkreis des Infernos hat Dante in der Göttlichen Komödie die Verführer und Bestechlichen, Hehler, Heuchler und Diebe, böse Ratgeber, Fälscher und ähnliche Delinquenten untergebracht. Nicht alle Bewohner gehören zum Kreis dieser Sünder, die vom Autor beschriebenen Martern spüren sie dennoch. Sie alle hoffen auf Erlösung, nämlich auf die andere, die richtige Wohnung, die vermutlich niemals kommen wird.
Dass es in diesem Nebeneinander der Schicksale gesellschaftliche Regeln und individuelle Würde gibt, dafür wollen die städtische Wohnheim als Hauseigentümer und die Mitarbeiter des Frankfurter Vereins für soziale Heimstätten sorgen. Letztere versuchen, so gut es geht, alles Hilfreiche in die Betreuung hineinzupacken. Das Hochhaus wurde gerade erst für einen Millionenbetrag saniert, nach Bränden und anderen Verwüstungen. Aufzug und Eingangspforte sind nagelneu. Der erste Eindruck beim Eintritt ist aber dennoch: Es stinkt infernalisch.
Die saubere Wohnung von gegenüber
Klaus-Dieter Thiel hat den Kampf gegen den Schmutz in seiner Wohnung verloren. Was der 65-jährige, von Arthritis frühzeitig gebeugte knochige Körper noch leisten kann, ist die Reinigung der Küchenecke. Er hat viele Jahre als Büffetier gearbeitet, da müssen die Spüle und die Flächen sauber sein. Ansonsten aber haben Staublagen, Spinnweben und schmutzige Krusten seine Wohnung nach und nach erobert und bestimmen nun den Geruch. Um seine kleine Kaffeemaschine herum, die auf dem Boden steht, turnt unaufhörlich eine Kakerlake. Thiel sieht sie, bedroht sie mit dem Schrubber, vergeblich. Kakerlaken, sagt er resigniert, seien ein Problem im ganzen Haus.
Thiel ist ein stiller, leiser, nachdenklicher Mensch, dem nicht mehr sehr viel Energie geblieben scheint. Als aufstrebender junger Mann in Leverkusen, da war er Laborant bei Bayer, interessierte er sich besonders für Pflanzen. Irgendwann ist ihm „die Chemie überall“ zu viel geworden, er wollte „mitten ins Leben“, nach Frankfurt, zur Gastronomie auf die Messe. Dort hatte er schöne Jahre, sagt er, und lernte auch die Annehmlichkeiten des feinen Lebens kennen. Zum Beispiel einen guten Rotwein. Tagelang habe er an einer Flasche Bordeaux seine Freude gehabt, die anderen hätten das gar nicht verstanden. Thiel lächelt ein wenig in der Erinnerung. Es gibt jetzt wenig Angenehmes in seinem Leben. Noch nicht einmal Bilder aus schöneren Welten. Er kann den Receiver für seinen Fernseher nicht bezahlen, sagt er. Und unterhält sich nun mit Krimis und Kreuzworträtseln. Er hat moderne Kunst geliebt, selbst Aquarelle gemalt. Durch einen häuslichen Unfall, berichtet er, seien alle zerstört worden, geblieben ist noch ein winzig kleines, im Stil von van Gogh gemaltes Bild. Ansonsten hängen nur Schleier von Spinnennetzen an den kahlen Wänden.
Nach Erwerbslosigkeit, Krankheit, Armut hat sich das übliche Alltagsleben einfach Stück für Stück von ihm zurückgezogen, bis er schließlich in das Hochhaus quasi eingewiesen wurde. Mehr dazu erzählt er nicht. Seine Möbel, eine Art Schrankwand, ein Nachttisch, ein Tisch, alles im gleichen marmorierten Holzimitat, konnte er damals sehr günstig erwerben, doch das Sperrholz hat sich schnell verzogen, Türen und Schubladen lassen sich nicht mehr schließen. Er hätte es gerne anders, er weiß einfach nicht mehr wie.
Winzige Inseln des Glücks hat sich Thiel aber doch bewahrt. Da wurzeln zwei Pflanzen in Blumentöpfen, auf den ersten Blick unscheinbar. Das sind aber Aloe Vera und eine kleine Ginseng-Pflanze, Heilpflanzen, die Thiel beide aus dem Abfall gefischt hat. „Wie kann man so etwas wegwerfen?“ Diese hegt und pflegt er, genau wie seinen Traum: Er möchte in die Altenwohnanlage, auf die er von seinem Fenster im 5. Stock aus blicken kann. Da soll es wunderbar sein, sagt er sehnsüchtig, so sauber diese Wohnungen, und alles so sicher und freundlich.
Wohnen ohne Mikrowellen-Attacke
Verwest da etwas in einer nicht einsehbaren Ecke, hat da jemand Kot an die Wände der breiten Flure geschmiert? Ralf Katzer ist zur stark gesicherten Eingangspforte gekommen, um zu öffnen. Er zuckt auf diese Fragen leicht mit den Achseln, was er aber ohnehin ständig tut. Er warnt uns in wohlgesetzten Worten wie ein Fremdenführer davor, dass die Zustände in Hauseingang und Flur sowie in den Schuhschachteln, also den Wohnungen, womöglich nicht so angenehm seien, wie sich das manch einer wünsche. Brände, Vandalismus, Kotze und das alles eben. Katzer ist 55 Jahre alt, groß und trägt ein kariertes Hemd.
Auf seiner Etage, der zweiten, lässt der Gestank etwas nach. Von den breiten Fluren gehen hölzerne schmale Türen ab. Einige scheinen schon mal aufgebrochen worden zu sein, Indizien sind gesplittertes Holz und verzogene Klinken. Die Wohnungstür öffnet sich zu einer etwa zwei Quadratmeter großen Küchennische, von der die noch einmal kleinere Nasszelle abgeht. Eine weitere Tür führt in den Wohnraum.
Katzer hat ein breites, vollgestopftes Bücherregal in die Mitte des Raumes geschoben, so dass ein abgetrennter Wohn-Essbereich und eine Schlafnische entstanden sind. Neben Werken zur Zeitgeschichte stehen Bildbände über Städtebau und ein Roman von Charles Dickens. „Ohne Bücher gibt es kein Leben.“
Da noch Mobiliar sowie Pappkartons auf den beiden schmalen Streifen Wohnraum stehen, auch ein runder Esstisch, auf dem unzählige Zeitungen liegen, ist schon für eine Person kaum ein Durchkommen oder auch Sitzen mehr. Katzer steht meisten, lesend oder am auf Pappkisten aufgebockten Laptop ohne Internetanschluss. Und dann durchfährt es ihn „wie ein Schlag“, er spürt wieder die „Mikrowellen-Attacken“. „Merken Sie nichts, wirklich gar nichts?“
Diese Attacken – er weiß nicht, ob sie von einer Organisation kommen („NSA, CIA“) oder von einzelnen Personen, die ihm übelwollen – haben sein Leben besetzt und ihn nach und nach in die Hochhauskammer geführt. Auf seinem Laptop sind Exceltabellen mit aufgelaufenen Mietzahlungsstreitigkeiten vergangener Tage zu sehen. Die betrachtet er mit gerunzelter Stirn, als könnten sich Gründe offenbaren, und zieht dabei an einem stark heruntergebrannten Zigarillo.
Die übrige Zeit betreibt Ralf Katzer andere Studien, und zwar zu Stadtlandschaften, die für ihn „Geisteslandschaften“ sind. Frankfurt, seine Heimat, seine Stadt ändere sich ständig, auch architektonisch, das müsse er als „Straßengänger“ permanent beobachten, um mithalten zu können. Seine Gänge führen ihn oft in die Deutsche Nationalbibliothek, Architektur hat er mal studiert, sich dann doch zu einer Ausbildung bei Hochtief entschieden („war ein fabelhaftes Unternehmen“). Musikalisch ist für ihn Bach „das Universum“, die Brandenburgischen Konzerte erklingen. Allerdings ist sich Katzer nicht sicher, ob die nicht eine Reaktion, nämlich eben die Mikrowellen-Attacken auslösen könnten. „Jetzt, schon wieder, merken Sie das wirklich nicht?“
Die Kirche, das Religiöse überhaupt, sagt Katzer, beschäftige ihn viel in letzter Zeit, davon zeugt ein alter Wandkalender mit Ikonenmalereien, das dominierende Bild im Raum. Den Glauben an ein irdisches Glück hat Katzer verloren. In diesem Haus der Schuhschachteln, sinniert er, da sei jeder in seiner kleinen persönlichen Hölle im Wartestand auf ein „besseres Leben in einer besseren Wohnung“. Ohne Mikrowellen-Attacken.
Zurück nach Thailand
Karl Ebners Wohnung ist heiß wie ein Backofen. Die Heizung lasse sich nicht mehr regulieren, sagt der kleine, sehr schmale Mann mit den nach oben stehenden struppigen Haaren und dem leichten bayerischen Akzent. Er kauert auf seiner verschlissenen Bettcouch. „Alles schlimm, alles schrecklich“, sagt er, „meinen Briefkasten haben sie aufgebrochen, meine Adresse gestohlen, bestellen jetzt Sachen auf meinen Namen. Die Polizei hat gesagt, ich soll bloß nichts zahlen. Ich brauch eine richtige Wohnung“, ruft er, wird wütend, will aufstehen, aber das geht nicht, weil er nach einem Unfall eine große Platte im Oberschenkelknochen trägt und Schmerzen hat.
Dann wird er ruhiger, die Stimmung ändert sich. Der 56 Jahre alte Karl Ebner, der eben noch 15 Jahre älter schien, lächelt verschmitzt und lässt wissen, dass er ein Rebell und Freiheitskämpfer gewesen sei und noch immer etwas davon in sich trage. Er zieht einen hellen Strohhut auf. Zwischen einem Riesenröhrenfernseher, einer Vitrine mit Porzellangeschirr, bäuerlichen Gemälden aus besseren Tagen, einer asiatischen Holzschnitzerei und einigen Abfallstücken schaut auch ein Porträt von Che Guevara hervor.
Ebner, der sich Charly nennt, hat eine Ausbildung als Fliesenund Marmorleger absolviert, dann ist er aus- und aufgebrochen, nach Thailand. Dort lebte er 20 gute Jahre, sagt er, zumindest beinahe 20. Als sie nicht mehr so gut waren, ist er heimgekehrt nach Deutschland. Dort hat es ihn „runtergerissen“. Drogen? Alkohol? – Details tun nichts zur Sache, findet er. Charly hat vier Jahre auf der Straße gelebt, bis ihn irgendwann die Caritas aufgesammelt habe und er schließlich in diesem Hochhaus gelandet sei. Er will weg, aber wie bloß?
Von einer Fotografie an der Wand aus den 1970er Jahren blicken seine verstorbenen Eltern, ein bieder-freundliches Paar, auf ihn nieder. Charly deutet an, es gebe Erbstreitigkeiten, sonst würde er hier nicht leben, hier in diesem Höllenhaus. Aber es gibt auch Gutes. Charly, wohnhaft in der 4. Etage, hat einen Freund, Thomas, genannt Tommy, aus der dritten Etage. Tommy, etwas jünger und nahezu zahnlos, hilft ihm, weil Charly so vieles nicht kann wegen des Beins. Es klingt auch an, dass es kleinere geschäftliche Aktivitäten gebe, was genau bleibt aber unklar. Auf dem Trödelmarkt jedenfalls hat es nicht funktioniert. Da wollte Ebner sein Porzellan („Das ist Meißen“) veräußern, doch ein Verkauf sei nicht zustande gekommen.
Gemeinsam versuchen sie auch, den Sinn von Behördenbriefen zu begreifen, die sich auf einem Tisch stapeln. In einem wird Charly aufgefordert, sich psychiatrisch untersuchen zu lassen. Er nimmt das hin wie Wind und Regen. Wichtiger ist, einen möglichen weiteren Aufbruch zu planen. Wenn es ihm wieder besser gehe, sagt Charly unter den bewundernden Blicken von Tommy, dann gehe er zurück, nach Thailand, in eine schöne Wohnung.