Wir schreiben das Jahr 2043. Ich bin fast 80 Jahre alt. Meine Augen sind trübe, die Gelenke schmerzen. Parkinson hat meine Nerven befallen und morgen erleide ich einen Schlaganfall. Mein Name ist Thomas Porten, vor 25 Jahren war ich einmal der Chefredakteur der Immobilien Zeitung.
„Ich kann mich doch selbst kaum bücken.“ Christof weigert sich also, mir zu helfen, und seine Ausflüchte sind billig. „Du machst es Dir sowieso ziemlich einfach“, schiebt er hinterher. „Schuhe mit Reißverschluss statt mit Schnürsenkeln – das soll investigativer Journalismus sein?“ Es ist früh am Morgen und Christof geht mir jetzt schon auf die Nerven. Christof ist Fotograf und wird mich in den nächsten zwei Tagen begleiten – zwei Tage, in denen ich mithilfe eines Alterssimulationsanzugs erfahren werde, wie es ist, als alter Mensch seinen Alltag zu bewältigen. 25 Jahre wird die Immobilien Zeitung in diesem Jahr alt, also wurde ich ebenfalls um 25 Jahre gealtert.
Ich höre zwar schlecht, den Tinnitus dafür aber immer
Ich bin gereizt. Das liegt sicher auch daran, dass ich gut zehn Kilo an Gewichten in einer Weste um meinen Oberkörper trage, um einen altersbedingten Kraftverlust der Rumpfmuskulatur zu simulieren. Die Weste ist eng verschnürt, um das Atmen zu erschweren. Weitere Gewichte beschweren meine Arme und Beine. Die Ellbogen- und Kniegelenke sind mit speziellen Manschetten umwickelt, die das Abwinkeln zu einer erheblichen Anstrengung machen. Zwei Paar Handschuhe schwächen den Tastsinn und machen die Finger gelenkig wie zähes Rindfleisch. Eine Halskrause schränkt die Bewegungsfähigkeit des Kopfes ein. Die Spezialbrille tut das Gegenteil dessen, was eine Brille eigentlich tun sollte: Sie engt das Blickfeld ein, verringert die Sehschärfe, verändert das Farbsehen und reguliert die Helligkeit nach unten. Der Kopfhörer wird die nächste Zeit alle Geräusche von außen dämpfen und zudem permanent mit einem tinnitusähnlichen Rauschen untermalen.
„Siehst Du, jetzt hast Du Dein erstes Erfolgserlebnis.“ Tatsächlich sind die Socken auch ohne Hilfe an den Fuß gekommen. Ob Christof dabei lacht, kann ich weder sehen noch hören. Ich habe aber keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Um 10 Uhr beginnt die Stuhlgymnastik.
Den Augenarzt im Treppenhaus habe ich nicht gesehen
Im Treppenhaus grüßt mich der Augenarzt. Das jedenfalls erzählt mir Christof, als wir draußen auf der Straße stehen. Ich habe ihn nicht gehört und auch nicht zurückgegrüßt. „Gucken die Leute eigentlich?“, will ich von Christof wissen. „Ja, alle.“ Dass der Overall, der das Grundgerüst des Simulationsanzugs bildet, knallrot ist, tut beim Gang durch die Fußgängerzone sein Übriges.
Wir sind spät dran und fahren deshalb zum Turnerbund Wiesbaden mit dem Taxi – bei einer durchschnittlichen Altersrente für Männer von unter 1.100 Euro im Monat sollte das nicht zur Gewohnheit werden. Der Taxifahrer hilft mir nicht beim Aussteigen. Christof fotografiert und hilft mir auch nicht. Egal, ich bin ja noch fit, denke ich. Dieser Gedanke wird nicht mehr lange halten.
„Wir strecken die Arme vor. Weiter vor. Schulterbereich vor. Vor. Und jetzt die Schultern nach hinten ziehen. Ziehen. Und wieder vor. Weiter vor …“ Sanft dringen die Kommandos von Elena in mein Ohr (*Die Namen wurden auf Wunsch der Beteiligten zum Teil geändert.) Beim dritten Armheben denke ich bereits ans Aufhören. „Nicht nachlassen, Arme hoch! Höher!“ Jaja, ich mach ja schon. Es folgen die Beine, dann wieder die Arme. Kleine Kreisbewegungen mit Händen und Füßen, größere Kreisbewegungen danach. Manche Übungen dienen der Mobilisierung der Gelenke, andere sollen die Muskeln stärken. Alles findet im Sitzen statt, deshalb heißt es Stuhlgymnastik. Koordination ist ebenfalls wichtig. Da hapert es bei mir ganz gewaltig, vor allen Dingen, nachdem ich den Tinnitus im Ohr auf Maximum gestellt habe, damit ich von „Cheri Cheri Lady“ von Modern Talking, das aus einem kleinen CD-Spieler plärrt, verschont bleibe. Ab da mache ich einfach das nach, was die Dame direkt vor mir tut. Zumindest so leidlich.
Stuhlgymnastik ist zu lasch, ich soll zum Bodenturnen mit
„Guck mal, der schwitzt.“ Der Satz gilt mir. Die vier Männer und 21 Frauen schauen alle zu mir her. Das fühle ich. Meine Brille ist jetzt von innen beschlagen.
„Ab wann ist man eigentlich hochbetagt?“, fragt mich Hans-Jürgen. „Ich bin jetzt 86 Jahre und ich kenne 50jährige, die sich kaum bewegen können.“ Fixiert er mich dabei? Hans-Jürgen geht einmal die Woche zur Gymnastik. Man müsste öfter hin oder mehr zuhause üben, weiß er. Aber da ist eben keiner, der einen antreibt, deshalb tut man es nicht.
„Sie kommen nächste Woche mit mir in einen anderen Kurs. Der hier ist zu lasch.“ Erika, 80 Jahre alt, will mehr Bodenturnen. Ich will lieber fahren, wir rufen ein Taxi.
„Wenn Sie wirklich fast 80 sind, dann können Sie das nicht alleine.“ Der Taxifahrer schnallt mich an. „Die meisten Gäste, die ich tagsüber fahre, sind alte Leute“, weiß er zu berichten. Die wollen zum Arzt oder zum Einkaufen. Bei Einkaufsfahrten hilft er, die Tüten zu tragen. Oder er wartet vor dem Supermarkt, bis die Einkäufe erledigt sind. Ältere Damen kutschiert er auch mal zur Fußpflege oder zum Frisör. „Dann muss ich das Fenster zumachen, damit die Haare schön bleiben.“ Beim Aussteigen gebe ich ihm gut zehn Prozent Trinkgeld. „Die alten Leute geben aber mehr!“
Zurück in der Wohnung. Um meine Fitness zu beweisen, werde ich eine Glühbirne im Wohnzimmer wechseln. Bei gut 4 Metern Deckenhöhe geht das nicht ohne Leiter. Die bringe ich noch an die richtige Stelle, und auch der Aufstieg klappt einigermaßen. Aber das ist schon eine wacklige Angelegenheit, und so richtig komme ich auch nicht an die Lampe heran. Für eine einfache Tätigkeit wie das Auswechseln einer Glühbirne brauche ich also Hilfe von einem Nachbarn oder von Angehörigen. Oder das Licht bleibt erst mal aus. Das Fehlen von Helfern trifft vor allen Dingen ältere Frauen, denn fast die Hälfte von ihnen lebt alleine, bei Männern ist es nur jeder Fünfte.
Man sollte nicht innerhalb von wenigen Minuten um 40 Jahre altern
Es ist gegen Mittag. Ich muss die Brille kurz absetzen, mir ist etwas schlecht. Ich hatte sie auf die höchste Stufe, ein Altern um 40 Jahre, gestellt. Dr. Roland Schoeffel, dessen Firma SD&C den Senior Suit getauften Simulationsanzug entwickelt hat und ihn heute vermietet oder verkauft, hatte mich vor dem Experiment deutlich gewarnt: „Wenn man innerhalb weniger Minuten um 40 Jahre altert, wird es richtig heftig, da wird einem sehr schnell sehr schwindlig.“ Normalerweise wird der Anzug nur kurzzeitig genutzt, um z.B. Pflegekräfte oder Mitarbeiter von Wohnungsunternehmen für die besonderen Probleme von Älteren zu sensibilisieren oder um Produkte auf ihre seniorengerechte Eignung hin zu prüfen.
Im Supermarkt stehen die billigen Sachen immer unten
„Jetzt mach mal hin.“ Christof treibt mich an. Er hat die Kontrolle über den Zeitplan, der – wie sich so langsam herausstellt – etwas eng getaktet ist. Aber ich kann nicht schneller, der Weg bis zum Lebensmittelmarkt im Karstadt zieht sich. Dort stehe ich gleich vor meinem nächsten Problem: Trotz großer Buchstaben kann ich meinen eigenen Einkaufszettel nicht mehr richtig lesen, ganz zu schweigen von der Beschriftung der Tomatensauce. „Die billigen Sachen stehen immer unten“, oute ich mich gegenüber dem Marktleiter als echter Einkaufsprofi. Unter Mühen bücke ich mich und greife mir ein Glas mit roter Tunke. Wie sich später herausstellt, war es viel teurer und außerdem mit Gorgonzola. Ich mag keinen Gorgonzola.
An der Käsetheke brülle ich laut „Parmesan“. Über das Brüllen, weil man sich selbst kaum hört, beschwert sich meine Frau noch Tage nach dem Experiment. Die Verkäuferin erklärt mir etwas. Nach zweimaligem Nachfragen gebe ich auf und sage nur noch „Ja ja, das nehme ich.“
„Das Schlimmste ist“, erzählt der Marktleiter, „wenn man nicht mehr aus der Wohnung kann.“ Ein Freund von ihm hat das Haus seit Monaten nicht mehr verlassen. Nur fünf Stufen müsste er dazu gehen. Ein unüberwindbares Hindernis. „Nur fünf Stufen, stellen Sie sich das mal vor!“
„Das Schlimmste ist, wenn man nicht mehr aus der Wohnung kann“
„Und was ist mit der Rolltreppe hier im Haus?“, mache ich auf eine Gefahrenzone aufmerksam. „Drei bis fünf Stürze haben wir da pro Jahr“, werde ich aufgeklärt. Dabei gibt es einen Aufzug. „Aber die Leute sind immer Rolltreppe gefahren und deshalb fahren sie sie im Alter auch weiter.“
Das Einkaufen war mühsam, wir nehmen deshalb den kurzen Weg direkt ins hauseigene Restaurant (mit der Rolltreppe, ohne zu stürzen). Erst einmal setzen. Aber wohin nun mit den Einkäufen? Im Restaurant herrscht Selbstbedienung. Wir entdecken kleine Wagen direkt neben dem Buffet. Sie sind eine Mischung aus Rollator und Servierwagen, auf dem man sein Tablett abstellen und gleichzeitig seine Taschen einhängen kann. Sehr praktisch.
Zielsicher steuere ich auf das mir mit riesigen Lettern entgegenleuchtende Asia Buffet zu. Verschiedenste Töpfe und Pfannen laden kulinarisch in exotische Länder ein. Diese Reise trete ich nicht an. Ich kann die Beschriftung nicht lesen und der Topfinhalt sieht für mich immer gleich bunt und gleichförmig aus. Mir fällt mein Vater ein. Der isst so etwas nicht. „Da ist doch sicher Hund drin, alles kleingeschnitten.“
Lieber Schnitzel mit Kroketten als asiatisch mit Hund
Er hätte womöglich die gleiche Wahl getroffen wie ich: Schnitzel mit Kroketten. Das ist im Angebot, vermute ich, denn ein riesiges, knallrot gefärbtes Plakat mit einem Schnitzel darauf hatte mich schon am Restauranteingang begrüßt.
Das Essen selbst gestaltet sich mühsamer als erwartet. Ich kann den Arm kaum abwinkeln und muss mich sehr weit nach vorne über den Teller beugen. Aber dann meldet sich sofort der Rücken. „Das ist nicht gesund, was Du da treibst.“ Christof macht sich Sorgen.
Wieder zuhause ziehe ich für den Toilettengang kurz die Weste aus. Erleichterung verspüre ich dabei keine. Das komplette Prozedere ist darüber hinaus eine Tortur. Der Overall hat einen Reißverschluss, der von oben nach unten geöffnet werden muss, die Bleiweste trägt man darüber. Ein Gang zum WC will zeitlich gut geplant sein, da sollte man nicht bis zur letzten Minute warten.
Rüdesheimer Kaffee: 4 cl Schnaps und viel Sahne
Es wird Zeit für die klassische Senioren-Nachmittagsbeschäftigung: Wir gehen in ein beliebtes Wiener Kaffeehaus in Wiesbaden. „Das haben wir uns verdient“, freut sich Christof. Er ist mit Abstand der Jüngste im vollbesetzten Lokal. Wer tagsüber in Wiesbaden unterwegs ist, so werde ich später resümieren, wird Behauptungen wie „Deutschland vergreist“ ohne Zögern unterschreiben.
Ich bestelle einen Rüdesheimer Kaffee. „Das trinken alte Leute nicht“, schlaubergert mir der Kellner entgegen. Da habe ich in meiner Jugend aber anderes gesehen, vor allen Dingen die älteren Damen waren auf die unter einer Sahnehaube verdeckten und deshalb nicht riechbaren 4 cl Asbach Uralt immer scharf. Waffeln mit Kirschen und Sahne ergänzen meine Bestellung. Die Kellnerinnen und Kellner setzen nacheinander meine Brille auf. Sie sind erschrocken, über das, was sie – nicht – sehen. Einer ist enttäuscht: „Ich hab gedacht, das ist die Brille, wo man alle nackisch sieht.“ Ein älterer Herr gesellt sich dazu, sein Blick fällt auf mein Essen. „Wenn Sie fürs Alter trainieren, dann reicht es nicht, schlecht zu sehen und schlecht zu hören.“ Mir würden dann auch die Kirschen nicht mehr so schmecken. „Wenn Sie es wirklich authentisch wollen, dann müssen Sie sich schon eine Anästhesiespritze in die Zunge jagen.“
Am Nachmittag beginnt das große Zittern
Das tue ich nicht, aber dafür bekomme ich Parkinson. Ein kleines Stimulationsgerät wird per Elektroden an meinen Armmuskeln befestigt. Ich drehe voll auf und meine Hand beginnt stark zu zittern. Nun noch eine weitere Tasse Kaffee. „Du siehst genau aus wie mein Opa, wenn er Kaffee trinkt“, bemerkt Christof, während immer mehr Flüssigkeit auf die Untertasse tropft.
Am Abend entern wir den Weinkeller im Alten Rathaus. Wir setzen uns zu einem Pärchen („Wir sind noch junge Alte“) und einer älteren Dame an den Tisch. Sie empfehlen einen Wein, dessen Name ich nicht verstanden habe. Genauso wenig wie den des Weines, den die Kellnerin anpreist. Irgendwann habe ich gefragt, „Schmeckt er gut?“ Sie schreit mich an, ja er schmeckt gut. Ich bestelle ihn.
„Da sitzen die Dementen und das Essen fliegt durch die Gegend“
Reiner, der „junge Alte“, wohnt mit seiner Frau Renate etwas außerhalb von Wiesbaden. Sie gehen auf die Rente zu und sehen sich bereits jetzt nach einer Einrichtung um „für den Fall der Fälle“. Kinder, die sich kümmern könnten, haben sie keine. Bekannte von ihnen wohnen an der Ostsee, „in einer Residenz“. Da gebe es eine Sauna, ein Schwimmbad, ein Taxi stehe immer vor der Tür, alles im Vier- bis Fünf-Sterne-Bereich. Kostet 5.000 Euro im Monat, Pflegeleistungen gehen extra. „Die können sich das leisten, wir nicht.“
Erlebnisse in günstigeren Einrichtungen machen Reiner Angst. Er erzählt von einem städtischen Altenheim. „Sobald man die Eingangstür geöffnet hat, stank es überall nach Urin. Furchtbar. Da will man nicht sein. Da sitzen dann die Dementen herum und wissen nicht, dass sie Essen vor sich haben. Dann spielen sie damit und es fliegt durch die ganze Gegend.“ Für mich ein Trost: Die Heime in öffentlicher Obhut sind auf dem Rückzug, nur noch jedes zehnte wird so betrieben.
Ihr eigenes Haus haben sie soweit es geht umgebaut. Waschmaschine und Trockner stehen auf einem Podest, „damit die Frau besser drankommt“. Eine Rampe am Eingang wird genutzt, um Getränke mit der Sackkarre in die Wohnung zu befördern. Auch die Waschbecken wurden saniert und hängen nun höher. Ideal wäre es, wenn Waschbecken und Toilette höhenverstellbar wären, weil die beiden unterschiedlich groß sind. Später werde ich mir solche Produkte anschauen, auch eine höhenverstellbare Küche. 1.200 Euro kostet ein Motor allein für den Unterschrank – eine komplette Umrüstung ist für die meisten Senioren nicht bezahlbar.
Leben, als wäre es der letzte Tag? So ein Quatsch!
Der Weißwein macht Reiner derweil locker. Nach einigen spöttischen Bemerkungen darüber, dass das bei mir mit dem Wein trinken ja noch ganz gut klappe, wird er philosophisch. Was ist im Alter wichtig? Wie soll man leben? Das sind Fragen, die er gerne ausführlich beantwortet. Seine Zusammenfassung: „Man muss sich immer beschäftigen und man sollte jeden Tag so leben, als wäre es der letzte.“ – „So ein Quatsch!“, kontert mit strenger Stimme die Älteste am Tisch. „Das wäre ja der pure Stress. Man soll so leben, als ob man noch ewig zu leben hätte.“ Dann erzählt sie von einem 80jährigen, der gerade einen Weinberg angelegt hat.
Sie selbst zählt 74 Jahre, spricht mit einem leichten französischen Akzent. Ihr Sohn ist mit etwa 30 Jahren gestorben, ihre Tochter mit 40. „Mein Bruder bekam einen grippalen Infekt, der den Herzmuskel angegriffen hat, und ist ebenfalls früh von uns gegangen.“ Der Tod war für Charlotte immer ein naher Begleiter, aber nie so nah wie einmal vor ein paar Jahren. „Ein rücksichtsloser Autofahrer hätte mich beinahe überfahren, ein Passant konnte mich gerade noch so zur Seite ziehen.“ Wochen habe sie gebraucht, um das zu verwinden. „Wie schnell das Leben auf einmal vorbei sein kann!“ Deshalb habe sie den Entschluss gefasst, künftig mehr an sich selbst zu denken. „Und auch einmal nein zu sagen.“ Bisher habe sie sich viel um ältere Freunde und Verwandte gekümmert. „Das tue ich immer noch, aber nicht so, dass ich die betüddele. Ich fordere sie, die sollen aktiv werden. Und wenn die das nicht mitmachen, dann suche ich mir eben andere Freunde. Dafür ist man nie zu alt.“ Bereits seit einer halben Stunde hält sie ihr Portemonnaie in der Hand, weil sie zahlen will. Sie freut sich, einen Zuhörer zu haben.
„Früh sterben ist der einzige Ausweg, meine Herren“
Zwei andere Damen bauen sich vor mir und Christof auf. Sie finden es gut, dass wir ein Alterungsexperiment machen. Schließlich würde uns das auch irgendwann mal treffen, das Altwerden. „Dagegen gibt es nur einen Ausweg: früh sterben.“
Später zurück in der Wohnung ziehe ich den Anzug zum Schlafengehen aus. Ich erinnere mich daran, was Dr. Schoeffel zu mir gesagt hatte: „Wenn sie ihn nach einem Tag ausziehen, hat das einen extremen Verjüngungseffekt. Sie fühlen sich absolut beschwingt, als wären sie aus einem Jungbrunnen gestiegen.“ Er hat gelogen.
Am nächsten Tag. Ich habe einen Schlaganfall.
Der Schlaganfall ist in Deutschland die zweithäufigste Todesursache. 150.000 Fälle werden pro Jahr neu registriert, 40% von ihnen überleben die nächsten zwölf Monate nicht. Die meisten Überlebenden benötigen danach eine Pflegekraft. 80% der Schlaganfälle betreffen Menschen ab 60 Jahren.
So gesehen habe ich Glück. Ich lebe noch und Christof steht an meiner Seite. Allerdings bin ich nun nach Anlegen des Hemiparesesets halbseitig gelähmt. Linkes Bein und linker Arm werden mittels Bandagen versteift. Der Toilettengang gestaltet sich doppelt schwierig: Hinsetzen und aufstehen von dem für mich jetzt viel zu niedrigen WC geht nur, wenn ich mich am Waschbecken festhalte. Zum Toilettenpapier an der Wand hinter mir kann ich mich kaum umdrehen. Hätte ich einen Rollstuhl, müsste der Schrank unter dem Waschbecken weg, sonst wäre auch dieses für mich unerreichbar. Eine Stufe vor der nicht bodengleichen Dusche entpuppt sich als Stolperfalle und massives Hindernis zum Einstieg.
Mein Pfleger findet, ich soll nicht so rumjammern
Christof und ich üben heute Morgen den Alltag im Alter. Schuhe zubinden, Betten machen, bügeln, Spülmaschine ausräumen. Mein „Pfleger“ findet, ich solle nicht dauernd so rumjammern. Meine Laune sinkt in den Abgrund. Die Verschnürungen empfinde ich als deutlich zu eng. Meine Bitte, die Bandagen am Knie etwas zu lockern, wird abgelehnt. „Hast Du schon mal gehört, dass jemand, der einen Schlaganfall hatte, sagen kann: Oh, mir ist das Bein zu steif, mach es mal eben etwas lockerer?“ Wir werden heute keine Freunde.
„Du musst auch die Zehen zu Dir hinbiegen!“, lautet sein hilfreicher Tipp beim Nägelschneiden. Ich komme nicht an meine Füße und falle beim Versuch, sie zu erreichen, vom Rand der Badewanne, auf dem ich gesessen hatte. Bilder von hilflosen Personen, die erst nach Monaten tot in ihrer Wohnung gefunden werden, fluten mein Hirn.
Wir verlassen die Wohnung. 70 Stufen sind es bis nach unten, es dauert und dauert. Mir fällt meine Oma Kätt ein, sie wurde fast neunzig Jahre alt. Hatte immer Wasser in den Beinen. Wenn jemand sie in ihrem kleinen Häuschen besuchte, warf sie den an einer langen Schnur befestigen Haustürschlüssel aus dem ersten Stock nach unten. Der Besuch konnte aufschließen, sie zog den Schlüssel wieder nach oben und hatte sich die Treppe gespart.
Schlüssel an die Schnur, runterwerfen, aufschließen lassen, hochziehen
Unser Ziel liegt heute in einem Vorort von Wiesbaden, dort gibt es eine Ausstellung, die ein Paradies für Rentner sein soll. Im Bus lasse ich den Fahrer nach dem Kleingeld kramen, nicht zum ersten Mal. Irgendwie habe ich dabei immer ein schlechtes Gefühl, Altersmisstrauen schlägt Gottvertrauen. Der Platz für die Behinderten ist zu klein für mich, ich blockiere mit dem steifen Bein vier Plätze. „Morgens tun mir auch immer alle Knochen weh“, belehrt mich eine Dame, die gerne ebenfalls dort Platz genommen hätte. Das mit den Mühen im Alltag sei nicht zum Lachen. Dann lacht sie.
Ich habe heute die Führung übernommen. Es regnet und wir streiten. „Ich glaube, wir sind zu früh ausgestiegen.“ – Christof: „Du hast doch gesagt, wir sollen hier aussteigen.“ „Weil ich geglaubt hab, es wäre richtig.“ „Schau doch mal auf Deinem Zettel nach.“ „Den habe ich liegenlassen.“ „Du bist ja wie mein Vater.“ „Die Ansage im Bus war so undeutlich und den Namen der Haltestelle konnte ich nicht richtig lesen.“ „Warum sagst Du dann, dass wir aussteigen sollen?“ „Weil ich geglaubt habe, es wäre richtig. Du hättest ja auch gucken können.“ „Du hast gesagt, Du weißt, wo es ist.“ „Weiß ich ja auch.“ „Du bist wie mein Vater.“ „Hoffentlich behandelst Du den besser.“
Verlässt der Verwirrte das Haus, schlägt der Teppich Alarm
Frau Gruber empfängt uns. Seit vielen Jahren setzt sie sich mit dem Thema des Alterns auseinander. Heute führt sie uns durch „Belle WI“, eine „Musterausstellung zum barrierefreien Wohnen und hilfreicher Technik“. Auf 220 Quadratmetern präsentiert sich alles, was den Alltag eines Senioren erleichtern könnte: Badezimmer mit vielen Haltegriffen, Stuhl in der bodengleichen Dusche, Modulbadewanne mit Tür. In der Küche Schränke, die auf- und abfahren können, sowie Vorrichtungen zum leichteren Öffnen von Gläsern und Dosen. Eine mobile Funkglocke, die das Klingeln an der Tür in jeden Raum bringen kann und per Blitzlicht auch optisch auf sich aufmerksam macht. Der „Winflip“, der gekippte Fenster automatisch nach einer gewissen Zeit schließt. Ein digitaler Türspion für Menschen im Rollstuhl, die auf einem transportablen Bildschirm sehen können, wer vor der Tür steht. Eine Fußmatte, die nachts eine Meldung bspw. an die im Haus lebenden Kinder schickt, wenn man vom Bett aufsteht und nur im Nachthemd bekleidet das Haus verlassen will. Darüber hinaus unzählige kleinere und größere Gadgets, die beim Lesen, Gehen, Aufstehen, Kartenspielen oder Fensteröffnen helfen. Der Markt scheint riesengroß.
„Die meisten kommen aber hierher, wenn es im Grunde schon zu spät ist“. Frau Gruber klingt nicht frustriert, aber realistisch. Zu den Besuchern zählen viele Handwerker oder Altenpfleger. Die Privatleute, die da sind, informieren sich in der Regel für ihre Eltern oder Angehörige. Eine der häufigsten Fragen ist: „Lohnt sich das denn überhaupt noch?“ Vor allen Dingen die Älteren wollen sparen, für ihre Enkel. Frau Gruber erklärt ihnen dann, wie viel mehr Reisen oder ein Auto kosten. „Nachgefragt wird überwiegend zu Hilfen im Bad oder zum Überwinden von Treppenstufen.“ Besonders die um 30 cm höhenverstellbare Toilette kommt gut an. „Dieser intime Bereich ist für viele eben sehr sensibel, selbst von Verwandten möchte man sich da nur ungern helfen lassen.“
Die höhenverstellbare Toilette ist der Renner
Nicht nur der Preis für die größeren Vorrichtungen schreckt häufig ab, auch Design oder Funktionalität der Produkte lassen oft noch zu wünschen übrig. Bei einer Fernbedienung für die Tür, die aussieht wie ein Autoschlüssel, zeigt sie es: „Gute Idee, aber die Symbole auf den Tasten sind sich viel zu ähnlich, da tippt man leicht daneben.“ Oft würden die Kunden bei solchen Produkten nicht wirklich mitgenommen. Auch auf Sprache reagierende Technik sei noch nicht ausgereift. Frau Gruber spricht jetzt sehr leise. „Sonst springt Alexa gleich an.“
Das Thema Smart Home kommt nicht gut an. Angst vor einem Systemausfall und davor, wohin die Daten wandern, sind die größten Hemmnisse. Immerhin, so hat Frau Gruber erfahren, seien viele Wohnungsunternehmen zunehmend bereit, in unterfahrbare Waschbecken und Ähnliches zu investieren. „Sie wollen ihre älteren Mieter halten, denn die sind leise und zahlen zuverlässig ihre Miete.“
„Herr Thomas, Sie haben jetzt dreimal gepennt“
Nach der ausführlichen Ausstellungsbesichtigung beginnt der letzte Teil meines Alterungsexperiments. Jetzt wollen wir Spaß haben. Was wäre dazu besser geeignet als eine Runde Bingo?
„Herr Thomas, Sie haben jetzt dreimal gepennt. Ihre Zahlen waren schon da.“ Ljudmilla schaut streng in meine Richtung. Genauso wie die anderen neun Damen im besten Alter. Bingo habe ich noch nie gespielt, die Regeln sind aber einfach. Jeder erhält ein Kärtchen mit jeweils unterschiedlichen Zahlen. Darüber steht eine Reihe mit Buchstaben. Eine, in diesem Fall Ljudmilla, ruft nach dem Zufallsprinzip Buchstaben-Zahlen-Kombinationen auf. Berta 4, Otto 24 usw. Wer einen Treffer auf seinem Kärtchen landet, legt ein kleines blaues Plättchen darauf. Ziel ist es, eine Reihe waagerecht, senkrecht oder quer voll zu bekommen. Dann ruft man laut „Bingo!“ und erhält als Belohnung ein kleines Bonbon. Wer als erster zwei Reihen voll hat, ruft „Bingo, Bingo!“ und es gibt ein größeres Bonbon. Ist die ganze Karte mit Steinchen belegt, dann heißt es „Volle Karte“. Die Belohnung: ein Schokohase.
„Herr Thomas, jetzt haben Sie schon wieder gepennt.“ Ljudmilla kennt keine Gnade. Nach jedem Spiel kontrolliert sie, welche Zahlen schon gefallen waren und ob man auch alle auf seinem Kärtchen markiert hat oder dafür zu langsam war. Während des Spiels erhöht sie permanent das Tempo, ich komme kaum hinterher. Hat sie jetzt Berta, Ida oder Norbert 39 gesagt? Und ist das, wo ich zittrig mein Blättchen ablege, überhaupt eine 39?
Die Damen machen mir schnell klar: Bingo ist kein Männersport
„Man muss schon mal ein bisschen schneller machen“, rechtfertigt sich Ljudmilla. „Wenn die Pausen zu lang werden, können sich viele Ältere nicht mehr konzentrieren. Manche Leute hören und sehen ja sehr schlecht“, stellt sie mit Blick auf meine Brille und Kopfhörer fest. „Dann bekommen sie die Zahlen nicht mit, werden sauer und aggressiv. Das geht nicht.“ Ich beziehe das mal lieber nicht auf meine Bemerkung, dass sie mit den Damen auf der anderen Seite, die dauernd gewinnen, unter einer Decke steckt. „Der stellt sich schon den ganzen Tag so an“, erheitert Christof die Runde. Ich schalte meinen Kopfhörer lauter, Taubheit kann manchmal ein Segen sein.
Am Ende des Nachmittags ist Ljudmilla sehr zufrieden mit mir. Ich wurde immer besser, aber nicht unhöflich. Gewonnen habe ich kein einziges Mal, nicht einmal ein einfaches „Bingo!“ war mir vergönnt. Dennoch bin ich mit neun kleinen Schokohäschen nach Hause gegangen. Die Damen hatten Mitleid.
Am Abend ziehen Christof und ich Resümee. „Und, wie war das jetzt so als Greis?“ – „Wir haben sehr viele nette und humorvolle Menschen kennengelernt und viel Spaß dabei gehabt“, fällt mir als erstes ein. „Und ich glaube, dass sich die anderen auch über die unverhoffte Abwechslung gefreut haben.“ Alle Ältere, denen wir begegnet waren, kannten zwar ihre Wehwehchen, sie jammerten aber wenig.
„Und, wie war das jetzt so als Greis?“
Doch es gibt auch die andere Seite, die mit den vielen großen und kleinen Beschwerlichkeiten des Alltags. Das schlechte Hören und das mangelhafte Sehen kann man zum Glück im Alter noch sehr gut mit Hörgerät und Brille ausgleichen. Doch wenn die Mobilität eingeschränkt wird und man womöglich das Haus nicht mehr verlassen kann, dann ist das Leben auf einmal ein völlig anderes. Weder Bingo spielen noch Gymnastik, weder Einkauf noch Enten füttern oder Weinstube ist dann so einfach möglich. Und das trifft sehr viele Seniorinnen und Senioren. Gut 2,2 Millionen pflegebedürftige Menschen ab 65 Jahren gibt es in Deutschland, 2030 sollen es schon drei Millionen sein. Zwei Drittel der Pflegebedürftigen sind 80 Jahre oder älter. Sie bedürfen dauerhaft erheblicher Hilfe bei den einfachen Verrichtungen ihres Alltags.
„Wir haben bei den Menschen, die wir getroffen haben, die schönen Seiten des Lebens im Alter gesehen“, ergänze ich meine Antwort. „Bei den vielen anderen kann das Dasein nicht nur sehr beschwerlich sein, sondern auch sehr einsam.“