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Der Traum des Prinzen

Text | Monika Leykam

1984 wirft His Royal Majesty Charles, Prinz of Wales, Herzog von Cornwall, den zeitgenössischen Architekten den Fehdehandschuh vor die Füße. Eingeladen vom Royal Institute of British Architects, das vom Thronfolger nicht mehr erwartete als ein paar verbindliche Grußworte, beschimpft der Prinz, ganz unköniglich, den Architektenentwurf für den Erweiterungsbau der National Gallery als „monströses Furunkel“. Großbritannien werde „von Planern, Politikern und Architekten verwüstet“.

Der Prinz beklagt lautstark die fehlende Demut der Planer vor traditionellen Formen und Stadtstrukturen, ihre Absage an klassische Baustile und ihre Missachtung eines urmenschlichen Bedürfnisses nach Harmonie, Sicherheit und Wohlbefinden. „Planung und Architektur sind viel zu wichtig, um sie allein den Profis zu überlassen“, schreibt er fünf Jahre später in seinem Gegenentwurf zu der von ihm verabscheuten Moderne, „A Vision of Britain“.

Wenn wir die Architektur­­​geschichte verleugnen, verlieren unsere Gebäude ihre Seele. Tief in unserem Unterbewusstsein bleibt ein unangenehmes Gefühl, dass uns etwas fehlt, wenn wir unser Selbst auf dem Altar des Fortschritts opfern, wenn wir in Gebäuden leben und arbeiten, die nichts anderes abbilden als die Technologie
der Gegenwart.

Diese Dreistigkeit des bekennenden Amateurs sorgte bei den Geschmähten für gewaltige Aufregung. Charles sei ahnungslos, inkompetent, er sei ein Populist und zugleich undemokratisch, sein Geschmack habe das Niveau von Disneyland, und das Ganze sei doch bestenfalls die schrullige Marotte eines Laien. Aufhalten können sie den Prince of Wales damit nicht. Der umfangreiche Landbesitz des Herzogtums von Cornwall, das dem ältesten Sohn des herrschenden britischen Monarchen zusteht, ermöglicht es ihm, aus Visionen Wirklichkeit zu machen. „Zehn Prinzipien, auf die wir bauen können“ zählt die Vision of Britain auf, vier Jahre später werden sie im lieblichen Südwesten Englands, etwa auf halben Weg zwischen der Hafenstadt Portsmouth und der Ferienregion Dartmoor, umgesetzt.

Am Rand des 20.000 Einwohner kleinen Städtchens Dorchester lässt der Prinz den Luxemburger Architekten Léon Krier den Masterplan für Poundbury entwerfen. Eine Siedlung, die den Menschen alles bieten soll, was die seelenlose Moderne ihnen vorenthält: planvoll nach historischen Städtevorbildern gestaltete Quartiere statt monotone Wohnstraßen vom Reißbrett, sichtbar hervorgehobene zentrale Plätze, an denen sich die Menschen gerne treffen, fußläufig erreichbare Infrastruktur für den täglichen Bedarf, eine menschen- statt autozentrierte Stadtplanung. Hier sollten sie Gemeinschaft, Sicherheit und Schönheit erleben können.

1993 starten die ersten Bauarbeiten für eine kleinteilige Erweiterung des westlichen Ortsrands von Dorchester. Mit Beginn der zweiten Bauphase nach der Jahrtausendwende nimmt das Projekt Fahrt auf. Heute hat Poundbury etwa 3.000 Einwohner, von denen sich im nachmittäglichen Frühlingsnieselregen aber kaum einer auf den leicht verwinkelten, von beschaulichen und gepflegten Häusern gesäumten Straßen blicken lässt. Eigentlich ein Jammer, denn Fußgänger haben es wirklich sehr gut in der Stadt des Prinzen. Die Straßenfronten bieten einen gefälligen und abwechslungsreichen Fassadenmix von traditionell-georgianisch-grau über villenartige Ensembles in klassischem weiß bis hin zu verspielten Experimenten mit romantischen Veranden oder gotischen Fensterbögen vor Pastellfarben. Als wären sie natürlich über die Jahrhunderte gewachsen, verlaufen die Straßen statt in geraden Schneisen in mehrfachen Knicken und werden mal enger, mal breiter. Überall bieten schmale Durchgänge dem Fußgänger bequeme Abkürzungen in alle Richtungen. Die Gehwege selbst sind breit und mit hellem Split aufgeschüttet, der sanft unter den Füßen knirscht. „ER mag keine schwarzen Asphaltwege“, erklärt Annabel aus dem Büro des Bauträgers CG Fry & Son. ER, das ist seine königliche Hoheit Charles Philip Arthur George Prinz von Wales Herzog von Cornwall. Und weil ER den Asphalt nicht mag, ist der von den Wegen verbannt, auch wenn das etwas teurer ist und sich die kleinen hellen Steinchen gerne in den Schuhsohlen festsetzen, die dann zuhause die Laminatböden zerkratzen. Das Knirschen auf den Gehwegen soll die Umgebungswahrnehmung verbessern und so vor allem des Nachts für ein zusätzliches Sicherheitsgefühl sorgen.

 

An diesem späten Nachmittag ist es in den Straßen so still, dass man nicht nur das Knirschen hört, sondern auch die Autos auf der rund 1 km entfernten Umgehungsstraße. Schwarzer Asphalt ist nicht das einzige Tabu. „ER mag keine Schilder, und gelbe Linien mag er auch nicht“, das wissen die Menschen hier. „Verkehrsschilder und Straßenbeleuchtung müssen unter Kontrolle gehalten werden“ schreibt der Prinz, es ist Prinzip Nummer 9 seiner Vision of Britain. So gibt es in Poundbury nichts, was die stattlichen SUVs, die die Durchgangsstraßen mal gemächlicher, mal zügiger durchqueren, an die Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/h oder an Vorfahrtsregeln erinnert. Poundburys Wegedesign setzt auf kalkulierte Unsicherheit: Da es an Schildern fehlt, sind Autofahrer zu ständiger Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung verdammt. Autos und Fußgänger sollen sich den Raum gleichberechtigt teilen. „Klingt vom Konzept her erst mal komisch, aber wir hatten in 20 Jahren keinen einzigen Verkehrstoten“, sagt Simon, bis vor kurzem als Estate Director für Poundbury verantwortlich.

Es gibt Regeln, die wir seit Jahrhunderten angewandt haben, ohne zu viel über sie nachzudenken, die aber dazu führten, dass Großbritannien einige der schönsten Städte der Welt bekam. Mit der Anwendung solcher Kodizes können unsere Städte wieder zu Orten werden, die sich mehr nach dem Menschen richten und wo unser Geist Ruhe und Inspiration findet. Wir alle brauchen Schönheit.

Auch sonst präsentiert sich die Umgebung dem Besucher geradezu aufreizend harmonisch. Manche Häuser schmücken sich mit winzigen, von schmiedeeisernen Zäunen geschützten Vorgärten, wie man sie aus London und New York kennt, andere säumen mit den Fassaden direkt die Straße. Je näher es auf Queen Mother Square, den zentralen Platz, zugeht, desto höher und dichter sind die Gebäude gebaut. Die Hierarchie, Prinzip Nummer 2, sieht vor, dass mit der öffentlichen Bedeutung die Größe und die Pracht des Objekts zunimmt. Queen Mother Square prunkt denn auch mit klassizistischen Fassaden, dorischen Säulen und Pilastern, bodentiefen Rundbogenfenstern und übermannshohen Torbögen. Auch dieser Stilmix provozierte Gift und Galle bei all jenen, denen SEINE Vision einer perfekten Stadt in unseren modernen Zeiten etwas zu sehr nach Mary Poppins schmeckte. Man fühle sich wie in einer jener Abziehbild-Städte, die die Chinesen bauen, damit sie sich die echte Fernreise sparen können, ätzte seinerzeit der Sunday Express. „Wie in einem Mix aus der Truman Show und den Frauen von Stepford“ komme ihr der Ort vor, zitiert die Dame aus Oxford, die es für einen Tagesausflug hierher verschlagen hat, zwei Hollywood-Filme, in denen sich die perfekte Vorstadt­idylle für die Helden der Geschichte als alptraumhafte Kulisse entpuppt.

Dabei ist Poundbury von Beginn an keineswegs als grüner Vor­ort für Heimwerker und Hobbygärtner gedacht – das Straßenbild soll bei aller Großzügigkeit urbane Dichte ausstrahlen. Dass der Besucher in den ruhigen Sträßchen dennoch vor allem die Idylle wahrnimmt, kann man Léon Krier nicht vorwerfen. In die Stille hinein zwitschern Vögel, ein Rentner führt seinen Hund aus. „Man fühlt sich hier immer ein bisschen wie in einem Filmset nach Drehschluss, wenn die Crew nach Hause gegangen ist“, sagt die Projektmanagerin, die auf den Bus in den Nachbarort wartet. Sie träumt von einem Umzug in eine größere Stadt. „Hier gibt es für mich keine Jobs“, sagt sie.

Diese Frau ist im Konzept des Prinzen und seiner Städtebau­berater nicht vorgesehen. Sie wollten einen Ort erschaffen, an dem die Bewohner morgens zu Fuß zu ihrer Arbeit in einem der lokalen Betriebe gehen und abends mit gemeinsamen Aktivitäten für gesellschaftliches Leben sorgen. Und sie haben einiges dafür getan: Viele Erdgeschossflächen größerer Gebäude sind für kleine Läden und Werkstätten reserviert, Produktions- und Bürogebäude wurden vom Start weg in den kleinen Ort integriert, ebenso Versammlungsräume. Damit ist das schon Ende der 1980er Jahre konzipierte Poundbury heute zum Vorbild für Stadtentwickler aus aller Welt geworden. „Erst gestern hatten wir eine Delegation aus Atlanta hier, die sich über unser Mischnutzungskonzept informieren wollte“, erzählt Simon. Rund 100 Fachbesuchergruppen schleusen er und sein Team hier jedes Jahr über die hellen Kieswege.

185 Geschäftsbetriebe zählt das Herzogtum Cornwall, Landbesitzer von Poundbury, nach offizieller Zählung im Ort. Die kleinen Werkstattläden genießen durch die Befreiung von den Business Rates – einer Zusatzsteuer für Einzelhändler, die sich am Mietwert des Geschäfts bemisst – besonderen Schutz. Diese Steuer hat sich in Großbritannien durch eine Neuberechnung der Hebesätze 2017 stark erhöht, was anderswo viele Gewerbetreibende in Bedrängnis brachte. „Ohne die Befreiung von den Rates müsste ich dichtmachen“, diesen Satz bekommt man von den hiesigen Einzelhändlern regelmäßig zu hören.

Sie verkaufen Brautmoden, frisch gebackene Torten, Bonbons, Fahrräder, Küchenbedarf und Schreibwaren. So ziehen sie Kunden aus dem Ort, aber auch aus dem Umland an und beleben die Straßen mit ihren bunten Ladenfassaden. Jedenfalls seitdem ER mit sich hatte reden lassen. Zu Baubeginn von Poundbury gestattete der Designcode für Ladenfronten ausschließlich mattschwarz und weiß. Der Code, das sind SEINE Vorlieben in Regeln gegossen. Jegliche optische Veränderung, die Eigentümer an der außen sichtbaren Hausfassade vornehmen, muss beim Prinzen beantragt und genehmigt werden – selbst wenn jemand einfach nur die Haustür in einer neuen Farbe streichen möchte. Das legen die herzoglichen „Stipulations“ (Vereinbarungen) fest, an die sich jeder halten muss, der hier ein Haus kauft oder eine Geschäftsfläche mietet.

Ein wagemutiger Ladenbetreiber setzte so nach Verhandlungen mit dem Herzogtum ein fröhliches Hellblau für seine Schaufensterfront durch; ein Hausbesitzer hatte weniger Glück: Da sein selbst angebauter Wintergarten von der Straße aus zu sehen war, wies ihn das Herzogtum an, seine Gartenmauer zu erhöhen.

Die Stipulations und der Designcode sorgen für die stellenweise fast unwirkliche Kulissenhaftigkeit Poundburys. Sie regeln sowohl das, was man hier sieht, als auch das, was man nicht sieht: Mit Werbefolie beklebte Lieferwagen zum Beispiel, Satellitenschüsseln, abgestellte Campingmobile, selbst gebastelte „Einfahrtfreihalten“-Schilder, Geräteschuppen, Parkscheinautomaten, Zebrastreifen, Ampeln – alles, was Städte bunt, aber auch ein bisschen unordentlich macht, ist aus Poundbury verbannt. Die Stadt ist durchnormiert bis hin zum immergleichen altmodisch-englischen Kamin, der jedes Dach krönt. Die Kamine sind Attrappen, die Häuser werden nämlich mit Erdgas beheizt. Gebraucht werden sie allein für die Optik.

„Gut designte Geschlossenheit vermittelt Sicherheitsgefühl. Gemeinschaftssinn entsteht viel schneller in einem wohlgeformten Platz oder Innenhof als zwischen beliebig zusammengewürfelten Bauträgergrundstücken.“

Und weil ein vorgefertigter Fake-Kamin nicht viel kostet, ein komplett von Hand gefertigtes Steinhaus dagegen ziemlich teuer wird, nimmt man es mit Prinzip Nummer 6 (Verwendung authentischer Baumaterialien durch geschulte Handwerker) dann doch nicht so genau. Auf den ersten Blick sehen in Poundbury zwar alle Häuser aus, als wären sie zweihundert Jahre alt. Doch dort, wo gerade der nordöstliche Bauabschnitt hochgezogen wird, sieht es nicht anders aus als auf anderen Baustellen Westeuropas: Stahlträger und Betonwände sind das Fundament, auf das nach der Dämmschicht die Fassadenverblendung gesetzt wird. Die ist dann mal Klinker, mal Rauhputz, mal Stein. Die in der Vision of Britain beschworene „alte Kunstfertigkeit“ traditioneller Baumeister wird hier nicht wiedererweckt.

Am nächsten Tag hat sich der Regen verzogen, in den Straßen sind Menschen unterwegs – nicht so viele wie in einer Großstadt, aber deutlich mehr als in „normalen“ Wohnsiedlungen im ländlichen Raum. Die Frühlingsausgabe des „Poundbury Magazine“ verkündet, dass bei neuen Bauprojekten Vogelhäuschen, Insektenhotels und extra Durchgangslöcher für Igel vorgesehen sind. Ein hellblauer, wolkenloser englischer Frühlingshimmel spannt sich über den grünen Hügel, auf dem immer noch fleißig gebaut wird. Wenn in ein paar Jahren alles fertig ist, werden rund 5.000 Menschen in dieser Idylle leben, beschützt durch die prinzlichen Stipulations, der öffentliche Raum penibel kontrolliert.

Drei, vier Mal im Jahr, heißt es, besucht Prinz Charles Poundbury, manchmal spontan und unangekündigt. Wer hier neu einzieht oder einen Laden aufmacht, muss also damit rechnen, dass ER eines Tages an die Tür klopft, den Vorgarten inspiziert und den Neuankömmling begrüßt. Ob all das nicht alles ein wenig feudalistisch sei, frage ich Annabel. Mag sein, sagt sie. „Aber es kommt unterm Strich gut an, es gibt den Leuten ein Gefühl von Sicherheit.“ In normalen Neubaugebieten gebe es keine Instanz, an die man sich wenden könne, wenn es untereinander Ärger gebe. In Poundbury dagegen können sich Gestresste an Stipulation Nummer drei halten. Die untersagt ausdrücklich, sich gegenseitig (oder IHM) auf die Nerven zu gehen.

 

Doch selbst bei einem Prinzen und seinem Reich haben die Möglichkeiten, Harmonie und Ruhe im öffentlichen Raum zu bewahren, ihre Grenzen. So mussten die Planer lernen, dass ein fußgängerfreundliches Straßendesign keine Garantie für eine autofreie Stadt bietet. Jeden Tag sind hier die Straßen reichlich mit Autos zugestellt. Keine Parkmarkierungen heißt nämlich auch: keine Parkgebühren. „Viele Leute, die von auswärts nach Dorchester zur Arbeit pendeln, nutzen uns als freie Park-and-Ride-Station“, seufzt Simon. „Wir wissen ehrlich gesagt nicht, wie wir damit umgehen sollen.“ Theoretisch wäre das ganz einfach: Straßenmarkierungen ziehen und Parkverbotszonen ausschildern. Aber die mag ER ja nicht.

„Manchmal werde ich beschuldigt, ich wolle jedermann dazu bringen, in einer Art besserem Disneyland zu leben. Das ist komplett falsch. Aber ich glaube, dass wenn wir eine Architektur haben wollen, die uns wirklich gefällt, wir uns von einigen unsinnigen Dogmen der Gegenwart befreien und stattdessen wieder in fundamentalen Prinzipien denken müssen.“

Und vorbildliches Mix-Use-Konzept hin oder her, Dorset Cereals wird trotzdem aus Poundbury fortziehen. Mit 115 Beschäftigten ist es der größte Arbeitgeber im Ort und will weiterwachsen. Das existierende Fabrikgelände sei dafür nicht geeignet, zitiert die Lokalzeitung den Manager. Nach 20 Jahren wird der Müsliproduzent sein hübsch mit rotem Klinker verblendetes Firmenareal an der Hauptstraße verlassen. Für Simon ist das kein Grund zum Wehklagen, man werde sicher einen Nachnutzer für das Gelände finden. „Wir sind entspannt, hier entstehen immer neue Arbeitsplätze.“ Eine Hochburg für Industrieproduktion und Dienstleistungen ist die Region allerdings nicht. Stattdessen dominieren Landwirte und Ruheständler. Gerüchteweise denken die lokalen Bauträger schon darüber nach, die frei werdenden Industrieflächen in Wohnungen umzuwandeln. Denn mit dem Wohnungsverkauf in Poundbury lässt sich viel Geld machen. „Es gibt hier einen klaren Nachfrageüberhang nach Häusern“, erzählt Jeremy, der freundliche Immobilienmakler. Ein Anwohner erinnert sich an ein Haus, das 2015 für 250.000 GBP gekauft und zwei Jahre später wieder zum Verkauf gestellt wurde. „Das ging dann für 500.000 GBP weg. Hier zahlen sie jeden Preis.“

„Sie“, das sind meist wohlhabende Pensionäre, bei denen die Region wegen der Nähe zur Küste besonders beliebt ist. Auf 10% bis 20% schätzen Einheimische den Aufschlag, den man gegenüber den Nachbarorten für vergleichbare Häuser zahlen muss. Mancher Einheimische sieht darin eine Prämie dafür, dass man in einem „Prinzen-Projekt“ lebt. „Poundbury hat einen elitären Ruf, auch wenn das vielleicht gar nicht stimmt“, sagt eine junge Frau in Jeremys Büro. Und es stimmt tatsächlich nicht. Denn 35% der in Poundbury erbauten Einheiten müssen verbilligt an Haushalte abgegeben werden, die sich für geförderte Eigentumsmaßnahmen qualifizieren. Diese Quote liegt spürbar über dem Niveau, das im Rest des Landes bei Neubaugebieten eingefordert wird, und soll vor allem jüngeren Haushalten die Ansiedlung ermöglichen. Wie gut das gelingt, weiß mangels offizieller Statistiken aber keiner so genau.

Den freien Wohnungsmarkt hat die Generation 60 plus fest in der Hand. Fast alle Kunden, die in Jeremys oder in Annabels Büro vorbeischauen, sind Rentner. „Poundbury ist ideal für Pensionäre. Es ist ruhig, umgeben von schöner Natur, man erreicht alles zu Fuß, die Gemeinde ist sehr aktiv und das Krankenhaus gleich nebenan“, solche Sätze hört man hier öfter. Das Geld, um sich hier einzukaufen, erlösen die Alten aus dem Verkauf ihrer großen Eigenheime anderswo im Land. Normalverdiener, die erst am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen, können da nicht mithalten. „Bei den jungen Menschen in Großbritannien reicht das Einkommen meistens für den Hauskauf nicht mehr aus“, erzählt Annabel. Wie viele der Jüngeren, die hier in Poundbury arbeiten und Läden betreiben, lebt sie selbst wegen der exorbitant gestiegenen Immobilienpreise zur Miete.

Blake ist Rentner und Hauseigentümer in Poundbury. Er konnte sein großes Haus mit noch größerem Grundstück so gut verkaufen, dass er sich den Umzug nach Poundbury leisten konnte. Als Leiter des lokalen Bürgerkomitees ist er für das Visionenprinzip Nr. 10 zuständig: die Pflege einer lebendigen Ortsgemeinschaft. Das demografische Gefälle vor Ort versucht Blake nicht schönzureden. Durch die hohe Quote geförderter Wohnungen habe sich die Sozialstruktur verändert. „Hier lebt nicht mehr nur die Mittelschicht. Wir müssen versuchen, die verschiedenen Gruppen zusammenzubringen.“ Er träumt von einem Klassikmusikfestival, organisiert von Jung und Alt gemeinsam auf der großen Grünfläche am Übergang zu Dorchester. „Ich nenne es die Poundbury Proms.“

Simon ist ebenfalls pensioniert und nur noch fallweise für die Stadt des Prinzen im Einsatz. Viele Jahre lang hat sich der ausgebildete Chartered Surveyor im Auftrag des Herzogtums um dessen Grundbesitz rund um Poundbury gekümmert. Wenige Immobilienberufe können auf eine so lange Tradition zurückschauen: Den Job, aus dem Grundvermögen des amtierenden Herzogs von Cornwall Überschüsse zu erwirtschaften, gibt es seit rund 650 Jahren. Für zudringliche Fragen über IHN ist Simon also nicht zu haben. Warum Prinz Charles, dem ein nicht durchgängig harmonisches Verhältnis zu seiner Mutter Königin Elisabeth II nachgesagt wird, den zentralen Platz nicht nach der amtierenden Regentin, sondern nach seiner Großmutter benannt hat? Weil hier Straßen nach Verstorbenen benannt werden, antwortet er trocken. Der lokale Pub trage aber doch den Namen der Duchess of Cornwall, Charles’ zweiter und absolut lebendigen Ehefrau Camilla. Das sei etwas anderes, sagt Simon und schaut dabei ein wenig gequält. Der Fremde verkneift sich also Frage Nummer drei: Warum das Pracht­ensemble, das gerade an der Stirn des zentralen Platzes hochgezogen wird, denn ausgerechnet nach einem Rennpferd der Queen Mum benannt ist (einem toten Rennpferd).

Royal Pavilion heißt das Ensemble mit seiner prunkvollen Fassade aus Säulenveranden, bodentiefen Fenstern, Altanen und einer klassizistischen Kuppel. Nach Fertigstellung wird es die erste Adresse der Stadt sein. Heute schon ist der Pavilion dank seines markanten Kuppelturms das höchste Gebäude am Queen Mother Square. „Die Größenhierarchie drückt unsere Werte und den Aufbau unserer Gesellschaft aus“, lautet es im Prinzip Nummer 2 der „Vision of Britain“, Übersetzt für Poundbury hieße das: Geld und Adel regieren die Welt. Royal Pavilion, ein 50:50-Joint-Venture von C.G. Fry und der Grafschaft, besteht nämlich, genauso wie die meisten anderen repräsentativen Gebäude am Platz, aus 20 Luxusapartments und Penthäusern. „Der Turm als Blickfang war von Anfang an im Entwurf eingeplant, um ihn zu finanzieren, werden die Apartments entwickelt“, erklärt Simon. Der Turm selbst beherbergt Penthouse Nr. 20 – mit 2,5 Mio. GBP ist es die teuerste Wohnung der Stadt.

2025 sollen die letzten freien Baugrundstücke aus Léon Kriers Masterplan für Poundbury zugebaut sein, das restliche Land ist für Grünflächen reserviert. Doch der Prinz baut woanders weiter. 2014 startete SEIN Projekt Nansledan an der Küste Cornwalls. Nansledan wird ein Drittel größer sein als Poundbury. Aber die Schilder und die Farben werden auch dort streng unter Kontrolle bleiben.

„Der Versuch, eine alte Bautradition wiederzubeleben, hat nichts mit Fake zu tun. Genausowenig wie klassische Architektur etwas mit Technologiefeindlichkeit zu tun hat.“

Heute, an diesem immer noch milden Frühlingsabend, sind im Pub am Queen Mother Square drinnen und draußen alle Tische besetzt mit fröhlich schwatzenden Menschen aller Altersklassen. Zwei Jungs kicken zwischen den parkenden Autos den Ball hin und her, vielleicht besuchen sie tagsüber die Grundschule, die vor einem Jahr eröffnet wurde. Die Fahrer ignorieren den Kreisverkehr rund um die Queen-Mother-Statue (es gibt kein Kreisverkehr-Schild, natürlich) und queren mal schneller, mal gemütlicher, die unmarkierte Straße als ganz normale Kreuzung. Poundbury wirkt jetzt wie jede andere Stadt. ER, so scheint es an diesem Abend, hat letztlich seinen Kritikern das Schlimmstmögliche angetan, was er ihnen hätte antun können: Er war erfolgreich.

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