Die vollste Insel der Welt

Text | Lars Wiederhold

Foto | Christof Mattes

Ich sitze eingepfercht zwischen einem Dutzend laut durcheinanderplappernden kolumbianischen Schülern und einer Handvoll Touristen aus Frankreich und Brasilien auf dem 400 PS starken Speedboat Sophia. Wir sind in der Hafenstadt Santiago de Tolú an der Nordwestküste Kolumbiens gestartet und nehmen Kurs auf eine winzige Insel im Golf von Morrosquillo.

Das Boot fliegt regelrecht über die Wellenberge. Die Schulklasse hat Spaß. Ich weniger. Bloß nicht seekrank werden. Im Fall der Fälle wäre hier wenig Platz. Immerhin ist es ein gutes Training, denke ich. Für das, was jetzt kommt: ein Besuch auf der vollsten Insel der Welt, ein Besuch in Santa Cruz del Islote.

1.200 Menschen leben dort in 100 Häusern, die sich dicht an dicht auf gerade mal einem Hektar Fläche drängen, die Größe von zwei Fußballfeldern. Das ergibt rechnerisch eine Bevölkerungsdichte von 100.000 Menschen pro Quadratkilometer. Weder Mumbai noch Hongkong können da mithalten, das „Inselchen“ schlägt ihre Dichte um das Vielfache. Aber genau das ist es, was mich interessiert: Wie lebt es sich dort, wo kein Platz zum Leben ist?

Palma, Tintipán, Múcura. Ich passiere eine karibische Traum­insel nach der anderen, bis nach etwa einer Dreiviertelstunde am Horizont ein seltsames Gebilde auftaucht. Zunächst wirkt es wie ein großer Müllberg, was da aus dem Wasser ragt. Je näher das Boot kommt, desto mehr wird deutlich, dass es sich um viele aneinanderdrängende Gebäude handelt: Bretterbude klebt an Bretterbude, Steinhaus an Steinhaus, verschachtelt und aufgetürmt wie ein Bienenstock. Die ganze Insel scheint nur aus Häusern zu bestehen. Sie sieht aus wie eine Favela, die ein Riese vom Rand einer südamerikanischen Metropole weggenommen und ins türkisblaue karibische Meer geworfen hat. Es ist klar, was mich dort erwartet: Gedränge ohnegleichen, permanenter Lärm, streitende Nachbarn, schreiende Kinder, bellende Hunde und wummernde Musikanlagen. Kein Ort der Ruhe, nirgends.

Die Bevölkerungsdichte ist höher als in Mumbai oder Hongkong

Die Bootsbesatzung macht die Sophia am Anleger fest. Der Kapitän ruft denTouristen zu, dass der Aufenthalt nur 20 Minuten dauern wird – das muss für eine Besichtigung reichen. Sie stürmen sogleich ins Inselinnere und ich verliere sie aus dem Blick. Ich selbst bleibe erst einmal stehen. Meine Augen suchen die vielen Einwohner der Insel und finden – nichts.

Vor mir liegt die mit Palmwedeln bedachte Terrasse eines ärmlich eingerichteten Restaurants. Dort sitzen schweigend zwei Frauen und ein Mann auf Gartenstühlen. In einem Reisebett schläft ein Säugling. Daneben döst im Staub ein Hund, alle Viere von sich gestreckt. Linkerhand eine kleine Strandbar. Eine ältere Frau stützt sich auf den Tresen und blickt in die Ferne. Hinter der Bar schraubt ein Mann mit nacktem Oberkörper allein an einem Bootsmotor. Rechts die Überreste eines abgerissenen Hauses als Symbol der Vergänglichkeit.

Durch menschenleere, von bunten Häuschen gesäumte Gassen gelange ich zum Hauptplatz der Insel. In seiner Mitte steht ein kleines Betonkreuz. Ich gehe an einem Haus vorbei, dessen Fenster mit Pappkartons und Bierkisten verbarrikadiert sind. Auf der roten Holztür steht in weißer Schrift „Coco Crazy“. Die Cocktailbar hat schon lange keine Gäste mehr gesehen. In der nächsten Gasse spielen ein paar Kinder mit Muscheln, ein Mann schnitzt ohne Eile an einem langen Holzstab. Zwei Arbeiter sind mit Reparaturen an einem Haus leidlich beschäftigt. Schnell bin ich wieder am Rand der Insel angekommen. Dort trocknet Wäsche auf einem Stapel Ziegel. Direkt daneben dümpeln Müllsäcke in einem Meerwasserbecken vergessen vor sich hin. Die Abflüsse der Insel ergießen sich hier ins Meer. Ich drehe schnell ab, denn es stinkt erbärmlich.

„Nein danke, ich will nicht mit einem Hai baden.“

„Willst Du mit einem Hai baden?“, ruft mir grinsend ein hagerer Mann mit Baseballkappe zu. Ich blicke ihn fragend an. „Mein Name ist Carlos, ich bin Insel-Guide.“ Carlos führt mich zu einem Wasserbecken. Darin schwimmt ein Mann mit Taucherbrille und T-Shirt. Unter ihm zeichnet sich ein großer bräunlicher Umriss am Grund des Beckens ab. Carlos gibt dem Taucher ein Zeichen und dieser scheucht die Attraktion der Insel an die Wasseroberfläche: einen drei Meter langen Hai. Ich lehne das Angebot dankend ab.

Carlos, der jetzt eine mit den Flossen schlagende Meeresschildkröte im Arm hält, erzählt mir von der Besiedlung der Insel. Fischer von der Halbinsel Barú, heißt es, haben sie vor gut 300 Jahren künstlich angelegt, indem sie Muscheln und Korallenschutt auf einem Riff aufhäuften. Sie wollten sich damit zunächst einen Unterschlupf in der Nähe ihrer Fischgründe schaffen. Zu Beginn nannten die Fischer ihr Domizil nur Islote, „Inselchen“. Nachdem die Flut ein Holzkreuz angeschwemmt hatte, versahen sie das Eiland mit dem Beinamen Santa Cruz, „heiliges Kreuz“. Die Fischer stellten schnell fest, dass die Insel auch in anderer Hinsicht gesegnet ist: Dank günstiger Winde und weil es kein Süßwasser auf der Insel gibt, ist sie komplett mückenfrei. Das sprach sich schnell herum, sodass sich immer mehr Menschen auf der Insel niederließen, bis irgendwann das letzte Fleckchen Erde besetzt und zugebaut war. „Und Islote damit zur vollsten Insel der Welt wurde“, ergänze ich.

„Das war früher“, holt mich Carlos auf den Boden der Tatsachen zurück. „Heute hat die Insel nur noch knapp 500 Bewohner.“ Die Enttäuschung auf meinem Gesicht bleibt nicht unbemerkt. „In den Ferien sind es aber 800. Dann kommen die Kinder heim, die die Schulen auf dem Festland besuchen.“ Die meisten Einwohner arbeiten inzwischen in den Hotels der Nachbarinseln, deshalb halten sich an einem normalen Tag keine hundert Menschen auf Islote auf.

Die Arbeit als Fischer ist beschwerlicher geworden. Rund um die Insel ist das Meer überfischt. Die Boote müssen deshalb immer weiter hinausfahren, um ihre Netze zu füllen. Besonders interessante Fänge landen in den zwei Freiluftaquarien der Insel, damit die paar Touristen, die sich auf die Insel verirren, Unterhaltung haben. Am zweiten Wasserbecken treffe ich Juan, der sich lässig in einem Plastikstuhl räkelt. „Ich bin der Chef des Aquariums“, berichtet mir der 62-Jährige stolz. Allein damit kann er seine Familie aber nicht versorgen. Er hat noch einen Job in einem Hotel in der gute zwei Stunden Bootsfahrt entfernten Hafenstadt Cartagena. Dort wohnt fast eine Million Menschen und dort lebt und arbeitet auch seine Frau Susanna, mit der er drei Kinder hat.

Für die Toten gibt es keinen Platz auf der Insel

Viele Inselbewohner leben von ihrer Familie getrennt. Das gilt auch für Maria, die sich als Insel-Guide etwas Geld verdient. „Ich vermisse meine älteste Tochter“, erzählt sie. Die Tochter besucht eine höhere Schule auf dem Festland und Maria würde ihr gerne dorthin folgen. Sie traut sich aber nicht zu diesem Schritt. Die Einheimischen sind ihrer Heimat sehr verbunden, niemand verlässt die Insel gerne für lange Zeit. Erst nach dem Tod darf und muss auch der treueste Bewohner Santa Cruz den Rücken kehren, denn die Insel hat keinen eigenen Friedhof. Die letzte Ruhestätte für die Insulaner liegt auf Tintipán.

Das Festland ist nicht nur wegen ihrer Tochter verlockend für Maria. Derzeit teilt sie sich auf Islote mit zwei Kindern, ihrem Mann sowie Schwiegereltern, Schwager und Schwägerin ein winziges Häuschen. In einigen Gebäuden geht es auf Islote also wirklich sehr eng zu. Maria will das aber ändern. Ihr Erspartes fließt derzeit in den Ausbau eines benachbarten Hauses. Während wir miteinander sprechen, betonieren hilfsbereite Nachbarn ihr eine Außentreppe. Nachbarschaftshilfe wird auf der Insel großgeschrieben. Die in Deutschland typischen Streitigkeiten unter Nachbarn kennt Maria nicht. „Wir sind wie eine große Familie.“ Deshalb hat auf Islote auch Kriminalität keinen Platz. Lediglich ein Wachmann ist zum Dienst abgestellt. Im Moment hat Eder den ruhigen Job. Er steht vor der Schule, weil das in Kolumbien Pflicht ist, nicht weil es erforderlich wäre.

Heute ist schulfrei und die Gittertür des weiß-blauen dreigeschossigen Schulhauses bleibt geschlossen. Das Haus enthält nicht nur Unterrichtsräume, sondern auch den Trinkwassertank der Insel. Das Wasser wird per Boot vom Festland geliefert. 5 Liter kosten 1.000 Pesos. Das sind umgerechnet in Euro etwa 30 ct. Viele Inselbewohner verdienen kaum 100 Euro im Monat, wenn überhaupt.

Neben der Schule entdecke ich einen hölzernen Wegweiser, der zum Kulturzentrum weist. Ich folge dem Schild, komme aber nur zu einer Brachfläche, auf der jemand sein kaputtes Boot geparkt hat. Darüber steht tatsächlich in großen blauen Lettern auf einem ausgeblichenen Holzrahmen „Casa de la Cultura“. Ich spreche Maria darauf an. „Keine Ahnung, wann das fertig wird“, sagt sie.

Ladenbesitzer bezahlen für den Strom das Doppelte

Die Inselbevölkerung hat gerade andere Sorgen. Die vor zwei Jahren installierte Photovoltaikanlage läuft nicht mehr und für Wartung und Reparatur stellt die Regierung kein Geld zur Verfügung. Nun muss wieder der Dieselgenerator ran, der bisher die Stromversorgung der Insel stemmte. Aber der läuft auch nicht mehr rund und ist nur wenige Stunden pro Tag im Einsatz. Wer Strom haben will, muss pro Haus für die Nutzung täglich etwa 60 ct berappen. Ladenbesitzer bezahlen mehr als das Doppelte.

Das spielt nur dann keine Rolle, wenn sich im Fernsehen die Fußballerstligisten Millonarios FC und Independiente Santa Fe einen Schlagabtausch liefern. Fußball genießt auf Islote überhaupt einen hohen Stellenwert. Zum Spaß wird auf dem kleinen Hauptplatz gekickt, doch es gibt auch einen Fußballverein, der auf der Nachbarinsel Tintipán trainiert und auf dem Festland gegen andere Vereine antritt. Vor zwei Jahren sponserte der Mundwasserhersteller Listerine sogar den Besuch des kolumbianischen Startorwarts Faryd Mondragón auf dem Eiland. Er trainierte die Spieler vor Ort – auch auf den Bootsstegen und den gemauerten Rändern der Haifischbecken. Danach ging es für eine Auswahl aus Spielern und Fans zu einem Match gegen den Fußballclub Los Galácticos in der Millionenstadt Baranquilla, bei dem die Equipe von Islote vier zu zwei gewann.

Das bisschen Touristengeld löst nicht die großen Probleme

Tags darauf treffe ich auf der Nachbarinsel Múcura zwei Männer, die als Förderer von Islote gelten: Alejandro und Martyn. Sie betreiben an einem typischen Traumstrand das Luxushotel Punta Faro und sind die Arbeitgeber vieler Isloter. Außerdem leiten sie eine Non-Profit-Organisation, mit der sie bei ihren Kunden Spenden für Bildung und Umweltschutz auf der Insel sammeln.

„Der Ruf als die am dichtesten besiedelte Insel der Welt macht Santa Cruz del Islote zu einem touristischen Anziehungspunkt“, erklärt mir Alejandro. Die Insel ist deshalb Teil jeder Tagestour, die von Santiago de Tolú aus startet. Bei ihren Besuchen lassen die Touristen etwas Geld da. Immerhin, doch es löst die grundsätzlichen Probleme nicht. Alejandro macht sich große Sorgen um die Zukunft der Insel. „Das Meer trägt immer mehr von der Küste ab.“ Die Einwohner versuchen zwar gegenzusteuern, indem sie wie ihre Vorfahren Muscheln an den Inselrändern ablagern, doch das ist ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Viele kleinere Inseln im Umfeld sind den Fluten schon zum Opfer gefallen. Die vollste Insel der Welt ist womöglich bald nicht nur leer, sondern verschwunden.

Die vollste Insel der Welt ist womöglich bald verschwunden

Damit hätte auch das einzige Spektakel, bei dem das Eiland wirklich überlaufen ist, ein Ende: der Hahnenkampf. Laute Musik tönt an diesen Tagen durch die mit bunten Girlanden geschmückten Gassen. Es wird überall getanzt und gefeiert. Die Jugendlichen kommen von ihren Schulen nach Hause auf die Insel, ehemalige Einwohner mischen sich mit vielen anderen auswärtigen Gästen, um auf das kampfeslustige Federvieh zu wetten. Santa Cruz del Islote ist an einem solchen Abend prop­penvoll.

Leider weiß ich das nur aus den Erzählungen unseres Fotografen. Denn der war einen Tag länger als ich – auf der dann wirklich vollsten Insel der Welt.

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