Sie sind keine Abenteurer und keine Plünderer. Dennoch dringen sie unbefugt in leerstehende Industrieanlagen, Kasernen oder andere abgesperrte Gebäude ein. Urban Explorer, kurz Urbexer, nennen sie sich selbst. Weder die Angst vor einem Unfall hält sie auf noch die Furcht vor aufmerksamen Wachleuten oder aggressiven Metalldieben. Sie haben eine Mission.
Einen Hang hinunter, schnell über einen Bahndamm, wieder einen Hang hoch, durch ein Loch im Maschendraht und ein paar hundert Meter auf einem Trampelpfad durchs Gestrüpp. Dann blitzt es metallisch vor uns auf: Große Spiralen aus nagelneuem Natodraht, dreifach übereinander gestapelt, versperren die ehemalige Einfahrt. Dahinter erhebt sich groß und rostig unser Ziel: Haut Fourneau B (HFB), der Hochofen B in Seraign, einem von Schwerindustrie geprägten Vorort von Lüttich, direkt am Ufer der Maas. Hallen, Büros, Rohstoffbunker, Generatoren, Tanks, Wasserbecken, Werkstätten, Rohrleitungen, Förderbänder, Aufbereitungsanlagen, der gigantische Hochofen selbst und viele andere Gerätschaften füllen nach einem schwer verständlichen System das rund 40 ha große Areal.
Ich bin mit Stefan und Michael unterwegs (Namen von der Redaktion geändert). Stefan, 38 Jahre alt, ist gelernter IT-Administrator und verantwortet heute für ein großes Unternehmen IT-Projekte. Michael, drei Jahre älter, arbeitet als Elektriker. Sie eint die Faszination für alte Industrieruinen, die sie für die Nachwelt fotografisch dokumentieren wollen. Heute haben sie sich vorgenommen, endlich das Gehirn von HFB zu finden: den Leitstand, von dem aus vor Jahren die gesamte Anlage gesteuert wurde.
Rasiermesserscharfer Natodraht versperrt den Weg
Zunächst aber müssen wir unbeschadet in die riesige Industrieruine hinein. Doch das wird schon am Anfang schwierig: Die übermannshohe Sperre aus Natodraht mit rasiermesserscharfen, zentimeterlangen Klingen wirkt unüberwindlich. Kein Wunder, das Zeug ist für den Kriegseinsatz gedacht. Zu unserem Glück waren Metalldiebe vor uns hier. An einer Stelle haben sie dicke Lagen aus einem festen Textilgewebe über die Drahtsperre geworfen, um die Klingen abzudecken. „Filterschläuche“, lautet Michaels Schnellgutachten zu dieser Abdeckung.
Er und Stefan haben sich in den zehn Jahren, die sie als Urbexer unterwegs sind, reichlich Fachwissen über Anlagen der Montanindustrie erarbeitet. Zechen, Kokereien und Stahlwerke wie HFB sind ihr Spezialgebiet. Ebenso wie die Filterschläuche können sie die meisten herumliegenden Schrottteile den vielfältigen Produktionsabläufen zuordnen. „Es geht uns nicht um den Thrill“, betont Stefan. „Wir wollen die Anlage dokumentieren und herausfinden, wie alles funktioniert hat.“ Immer mehr Schwerindustrie werde stillgelegt und in Westeuropa wohl nie wieder in dieser Form aufgebaut. Als Industriemuseen hergerichtete Werke sind für ihn kein adäquater Ersatz, weil dort viele Nebengebäude abgerissen werden oder für Besucher nicht zugänglich sind.
Der Reiz des Verbotenen oder Gefährlichen spielt für Michael und Stefan keine Rolle. „Wenn wir irgendwo in Absprache mit dem Eigentümer rein dürfen, ist das für uns genauso spannend“, sagen sie. So waren sie schon mehrfach in Atommüll-lagern, wo die zuständigen Behörden regelmäßig Touren im laufenden Betrieb anbieten.
Die einen machen Fotos, die anderen nehmen Kloschüsseln mit
Es gibt drei Gruppen von Urbexern, klärt mich Stefan auf: Fotografen wie ihn und seine Freunde, Menschen, die schlichtweg das Verbotene reizt, und schließlich Plünderer, die Andenken erbeuten wollen. „Das reicht bis hin zu Militariasammlern und solchen, die Akten mitnehmen oder Kloschüsseln abmontieren.“ Von den Abenteurern und den Plünderern grenzen er und seine Freunde sich energisch ab.
Ganz ohne Abenteuer bleibt unser Ausflug in Belgien freilich nicht: Auch mit Hilfe der Filterschläuche ist die Klettertour über den halb heruntergedrückten Stacheldraht eine wacklige Angelegenheit. Erst wagt sich Michael hinüber, dann nimmt er unsere Rucksäcke mit Fotoausrüstung, Verpflegung und Erste-Hilfe-Set entgegen. Wir lotsen uns gegenseitig durch den Drahtverhau: „Hier durchgreifen und auf der Mauer abstützen. Vorsicht, mit der Schulter kommst du an den Draht. Rechter Fuß ist frei, kannst weiter nach vorne.“
Auch wegen solcher Hindernisse gehen Stefan und Michael immer mindestens zu zweit auf Tour. „Allein ist zu unsicher. Wenn du irgendwo in ein Loch fällst, findet dich keiner mehr“, erklärt Stefan. Nicht zuletzt ist es wegen der vornehmlich osteuropäischen Metalldiebe besser, in einer Gruppe unterwegs zu sein. „Unsere Kameraausrüstung hat für die einen ziemlichen Wert.“
Es ist besser, nicht allein unterwegs zu sein. Wegen der Metalldiebe
Die Hinterlassenschaften dieser modernen Grabräuber begegnen uns gleich hinter der Drahtsperre. Unter einer Art Carport liegen verschlissene Jogginghosen und Arbeitshandschuhe, Zigarettenschachteln und Plastiktüten verstreut, gleich daneben ein ausgeschlachteter Wärmetauscher. Offenbar haben die „freischaffenden Entsorgungsexperten“, wie Michael sie nennt, im Sommer dort campiert. Wir treffen an diesem Wintertag keine Metalldiebe, aber der Gedanke an sie ist allgegenwärtig. Als wir uns dem Stahlwerk nähern und ein lautes Scheppern ertönt, zucke ich zusammen. Stefan bleibt ruhig: „Das ist der Wind am Wellblech da oben“, sagt er und deutet auf einen Aufbau, wo ein Sturm einige Metallplatten weggerissen und andere gelockert hat. „Nur wenn es regelmäßig scheppert, ist da einer an der Arbeit.“
Über eine teils mit Sträuchern zugewucherte Werksstraße betreten wir eine langgestreckte Halle. Es ist schummrig. Lange Förderbänder ziehen sich durch das Gebäude. Staub bedeckt den Boden, dazwischen immer wieder Schrott. Stefan geht an seine erste Fotosession. Wegen der bescheidenen Lichtverhältnisse arbeitet er mit Stativ und langen Belichtungszeiten. Fasziniert hält er die Weite der Hallen mit den riesigen technischen Gerätschaften fest, dann bleibt sein Blick wieder hängen an kleinen Details wie weggeworfenem Werkzeug oder einem Motorgehäuse mit Ausfräsungen, in dem noch einige wenige Drähte hängen. Stefan arbeitet mit verschiedenen Blenden, Verschlusszeiten, Weißabgleichen und Höhen der Kamera auf dem Stativ. Er will die Rosttöne des Bauteils, den Durchblick durch die Öffnung, Ausleuchtung von Vorder- und Hintergrund sowie den Schärfebereich in ein gelungenes Verhältnis bringen. Am Abend wird er rund 300 Fotos auf der Speicherkarte gesammelt haben.
Die Fotos erblicken selten das Licht der Öffentlichkeit
Meine Begleiter machen die Fotos hauptsächlich für sich selbst und für das kleine, von der Öffentlichkeit abgeschottete Online-Forum, in dem Gleichgesinnte ihre Aufnahmen präsentieren. „Da versuchen wir gemeinsam, die Produktionsabläufe zu verstehen, wir diskutieren, wie andere ein Motiv anders in Szene gesetzt haben. Oder ich lasse mich inspirieren, weil jemand etwas Interessantes gesehen hat, an dem ich vorbeigelaufen bin“, beschreibt Stefan das Forum. Ausgesuchte Aufnahmen, bei denen die Gefahr rechtlicher Konsequenzen gering ist, veröffentlicht er frei zugänglich im Netz, und auch bei einer Ausstellung waren schon Fotos von ihm zu sehen. Das meiste landet aber im Archiv. „Irgendwann kommt der Tag, an dem ich das gebrauchen kann“, ist Stefan überzeugt. Das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn später ein Entwickler des Areals den alten Zustand dokumentieren oder ein Medium darüber berichten will.
Viele Urbexer haben ein Spezialgebiet. Während Stefan und Michael sich für Industrieobjekte begeistern, suchen andere verlassene Wohnhäuser auf oder Militäranlagen des Kalten Kriegs. Häufig spielt die persönliche Verbundenheit eine Rolle. So kommen viele Urbexer, die sich für Industrieanlagen begeistern, aus traditionellen Industrierevieren, über die inzwischen der Strukturwandel hinweggegangen ist.
Zu zweit den verletzten Freund vom Gelände geschleppt
In HFB geht es zwischen langen Förderbändern tiefer hinein in die Anlage. Zum ersten Mal müssen wir unsere Taschenlampen einschalten. Wir richten die Lichtkegel auf den verstaubten Boden. Der Hochofen steht erst seit 2011 still. Deshalb ist die Bausubstanz kaum verfallen. Trotzdem können Spalten im Blechboden oder herumliegender Schrott zu Stolperfallen werden. Und ganz sicher ist es ohnehin nirgendwo. Geschichten über Urbexer, die durch verrostete Bodenplatten oder morsche Holzbrücken gebrochen oder in Wasserbecken gefallen sind, gibt es reichlich. Das Schlimmste, was meine Begleiter bislang erlebt haben, war der Beinbruch eines Freundes. Sie konnten das Bein mit einer Metallstange vom Werksgelände schienen, ihn zu zweit aus dem Objekt schleppen und der Notärztin übergeben. „Solche Unfälle sind der Grund, warum wir nur wenige Aufnahmen und normalerweise gar keine Angaben über Orte veröffentlichen: Wir wollen nicht, dass Familien beim Sonntagsausflug in so einer Anlage herumstolpern und in irgendeine Grube fallen“, sagt Stefan.
Wir sind wieder am Tageslicht, in einem Innenhof. „Besser gleich wieder rein in ein Gebäude“, meint Michael und zeigt in die Richtung, wo er einen Durchgang zum Leitstand vermutet. Geländesicherung und Werkschutz sind in Belgien längst nicht so intensiv wie in stillgelegten Industrieanlagen in Deutschland. Deshalb zieht es viele deutsche Urbexer ins Nachbarland. Trotzdem vermeiden meine Begleiter es, offen herumzulaufen. Schließlich kann doch einmal ein Wachmann vorbeikommen.
„Wirklich heftigen Ärger hatten wir noch nie. Wenn man mit einer Kamera rumläuft, wissen die Wachleute meistens schon Bescheid, dass wir nichts abmontieren wollen“, berichtet Stefan. Bei ihrem letzten Besuch in einer benachbarten Kokerei wurden sie erwischt und vom Gelände begleitet. Weitere Folgen hatte das nicht. In einem ehemaligen Walzwerk gab der Wachmann, der früher Stahlarbeiter gewesen war, den Urbexern sogar eine Privatführung. Zum Abschied meinte er dann: „Ich habe hier auch Metalldiebe entdeckt. Wie lange braucht ihr noch für eure Fotos? Ich rufe die Polizei, wenn ihr fertig seid.“ In Deutschland hatten sie schon einige Male versucht, Fotogenehmigungen für laufende Industriebetriebe zu bekommen. Während sie beim Personal am Ort oft ein offenes Ohr und manchmal sogar Begeisterung fanden, kam von den übergeordneten Ebenen der Unternehmen in der Regel eine Absage.
Räuber-und-Gendarm-Spiel für große Jungs
Im HFB bewegen wir uns zügig über die Freiflächen zwischen den Anlagen. Ich merke, dass mir das zunehmend Spaß macht. Räuber-und-Gendarm-Spiel für große Jungs. Vielleicht bin ich anfällig für das, was Michael und Stefan etwas abschätzig als Ruinentourismus bezeichnen. Meine Bewegungsabläufe verändern sich: Ich halte mich nahe an den Wänden, der Blick sucht immer wieder Türen, Fenster und Durchgänge zwischen Gebäuden und Anlagen ab, ich bleibe immer leicht in der Hocke. Woher kommt das? Nach kurzem Nachdenken fällt es mir ein: Grundausbildung bei der Bundeswehr vor mehr als 20 Jahren, Häuserkampf. Niemals auf freier Fläche stehen bleiben. Immer eine Wand im Rücken oder auf der Seite. Vorsichtig um Ecken schauen. In der Gruppe immer ein Blickfeld von 360 Grad abdecken. Offenbar hat sich damals doch etwas eingeprägt.
Wir sind in der Kantine angekommen. Vielleicht gibt es von dort einen direkten Weg zur Leitwarte, das Führungspersonal wollte doch sicher möglichst bequem zur Mittagspause gehen. Tische und Stühle stehen herum, alles mit Dreck bedeckt. Deckenplatten sind heruntergeschlagen, Ventilatoren verbogen. Auch hier wurden Kabel herausgeschnitten. Das Glas der eingeschlagenen Fenster knirscht unter unseren Schritten. An den Wänden hängen Comiczeichnungen, die zum Unfallschutz aufrufen sollten. Im nächsten Raum sind Spinde wie Dominosteine umgeschubst worden. Das muss ein Höllenlärm gewesen sein. Die Tür am anderen Ende des Raums ist verschlossen. Hier geht es nicht zur Leitwarte. Also wieder zurück auf den Hof.
Dann sehen wir ein Rolltor, das jemand mit brachialer Gewalt aufgehebelt und hochgeschoben hat. „Das ist neu“, meint Michael. Hinter der Toröffnung finden wir eine Metallwerkstatt, zwar durchwühlt, aber immer noch mit viel Inventar. Zwei tonnenschwere Fräsmaschinen stehen herum, auf dem Boden liegen Schweißelektroden verstreut. In einem Verschlag befinden sich Regale mit tausenden neu glänzenden Schrauben, Muttern und anderen Metallteilen. Viele Kartons sind deutsch beschriftet: Material vom Schraubenhersteller Würth.
Kurz vor Ende noch einmal richtig in die Technik investiert
Für die Suche nach neuen Fotoobjekten haben Michael und Stefan über die Jahre hinweg eine bewährte Technik entwickelt. Erst erhalten sie Anregungen aus dem geschlossenen Forum, wo Vertraute auch mal Geheimtipps austauschen, oder jemand aus ihrer Gruppe kommt zufällig an einem Werksgelände vorbei, das geschlossen und etwas heruntergekommen aussieht. „Dann schaue ich mir das Areal auf Google Maps an, versuche herauszufinden, welche Firma dort saß und was mit der passiert ist, ob und wann beispielsweise Insolvenz beantragt wurde“, erklärt Stefan. Darauf folgt ein erster Besuch, bei dem er außen um das Objekt herumgeht. Dabei macht er erste Fotos, checkt ab, ob irgendwo noch jemand arbeitet, und sucht nach Zugängen. „Ich gehe höchstens mal auf den Hof und schaue mir die Gebäude an, auf keinen Fall alleine ins Innere“, sagt Stefan. Zur eigentlichen Fototour kommen sie dann mindestens zu zweit wieder.
Im HFB erreichen wir nun das Herz der gesamten Anlage: den Hochofen. Die Stufen der Stahltreppe sind völlig verbogen. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht abrutschen. Erst können wir uns keinen Reim darauf machen, dann findet Michael die Erklärung: „Hier haben die Schrottdiebe irgendwelche tonnenschweren Teile runtergeschmissen.“
Vor dem Hochofen ist es ganz anders als in den oft engen und dunklen Gängen und Stiegen: Das Ungetüm ragt in einer geräumigen Halle hoch auf. Die Öffnungen, durch die Luft in das mehr als 1000 °C heiße Innere geleitet wurden, erinnern an Antriebsdüsen einer Rakete. Unter dem Hochofen floss früher der glühende Stahl. Jetzt liegt alles verlassen da. Nur noch das im Wind klappernde Hallendach sorgt für eine Geräuschkulisse. Ein relativ neuer rot-grauer Container mit einem großen Panzerglasfenster fällt auf. Im Inneren sind Steuerpulte zu erkennen. „Die müssen nochmal richtig in die Technik investiert und die Anlage kurz darauf geschlossen haben – verrückt!“, kommentiert Michael.
Der süßliche Geruch von verschmortem Kunststoff liegt in der Luft
Am Hochofen treffen wir erstmals andere Besucher: zwei Fotografen mit ähnlichen Interessen wie meine Begleiter. Es bleibt bei einem kurzen „Bonjour“, dann arbeitet jeder für sich an seinen Motiven. Michael und Stefan kennen den Hochofen schon. Deshalb widmen wir uns bald wieder dem großen Projekt des Tages: der Suche nach dem Leitstand. Elektronikräume haben sie bereits bei früheren Besuchen entdeckt. Wo die sind, kann die Zentrale nicht weit sein. Also auf zu den Schaltschränken. Sie sind nun unsere heiße Spur, nachdem wir in der Kantine nicht weitergekommen sind. Dort ist alles voller Ruß, hier und da knirscht eine halb verbrannte Platine unter unseren Stiefeln. Der süßliche Geruch verschmorten Kunststoffs liegt in der Luft. Wieder das Werk der Metalldiebe. Sie haben kurzerhand alles angezündet und dann die Kupferdrähte geerntet. Knallrote, mannshohe Flaschen mit Inertgas stehen in den Ecken. Sie waren Teile der Löschanlage, die Brände in den Elektronikräumen ersticken sollte. Gegen die Brandstifter half das nicht mehr.
Hier muss irgendwo der Leitstand sein. Im Licht der Taschenlampen durchsuchen wir die ausgebrannten Etagen nach bislang unbekannten Ausgängen – nichts. Schließlich versuchen wir es noch einmal außen. Auf Stahltreppen steigen wir bis auf das Betondach des Baus. Hier werden wir hinter einer geknackten blauen Metalltür fündig: Links geht es zum Labor, in dem noch Geräte für metallurgische Untersuchungen und ein Dosimeter stehen. Rechts finden wir ein halbrundes Pult mit knapp einem Dutzend Bildschirmen, einige aus ihren Verankerungen gerissen. Davor steht eine Schalttafel, die die gesamte Anlage im Schema zeigt. Der Boden ist knöchelhoch mit Akten und Büromaterial bedeckt. Bingo, der Leitstand!
Mit langer Belichtungszeit und im Schein der Taschenlampen gelingen uns trotz der absoluten Dunkelheit einige Aufnahmen. Unter die Schalttafel hat jemand mit gelber Farbe „Mittal a mort“ geschmiert: Mittal soll sterben. Der weltgrößte Stahlkonzern hatte 2006 die damalige Nummer zwei Arcelor übernommen, dessen Bestandteil HFB war. Nach dem Schließungsbeschluss fünf Jahre später gab es einen Aufschrei im belgischen Montanrevier. Der Schriftzug an der Schalttafel ist wohl ein Nachklang davon. „So etwas sieht man häufiger, weil die Schließung so großer Betriebe oft Proteste auslöst“, berichtet Stefan. Für ihn sind solche Spuren wichtige Motive für die Dokumentation. Wenn der Hochofen einmal in ein Industriemuseum umgewandelt würde, dann würden solche Zeitdokumente getilgt.
Die beiden sonst wortkargen Urbexer versprühen hier, im Kommandostand des Werks, so etwas wie Euphorie. Sie leuchten in alle Ecken, ja sogar in den Kühlschrank in einem kleinen Nebenraum, wo noch ein Glas mit nicht mehr sehr appetitlichen eingelegten Zwiebeln steht. Sie finden Dokumente zur Anlage und übersetzen sehr frei aus dem Französischen: „Herzlichen Glückwunsch zum Erwerb dieses Hochofens. Sie haben sich für ein absolutes Qualitätsprodukt entschieden, an dem Sie viel Freude haben werden.“ Hier sind zwei Schatzsucher am Ziel.
Begeisterung am Ziel: Der Leitstand ist gefunden
Auf dem Rückweg treffen wir vor dem Leitstand einen weiteren Urbexer, wie meine Begleiter aus dem Ruhrgebiet. Der Mann beklagt sich über eine Gruppe Jugendlicher, die lärmend durch die Anlage ziehen und ihn aus einem höheren Stockwerk fast mit einem heruntergeworfenen Stuhl getroffen hätten. Kurz darauf sehen wir sie selbst: junge Leute mit Turnschuhen, die mit Stahlstangen lautstark auf Maschinen einschlagen. Später klettern sie über einen Steg auf einem Dach herum. Keine gute Idee bei dem Wind und auf Metallteilen, die seit Jahren dem Wetter ausgesetzt sind. Wir beschließen von ihnen Abstand zu halten. „Wenn es hier Wachleute gibt, dann schnappen sie zuerst die. Kann uns nur recht sein“, meint Stefan.
Große Hallen sind Stefans Lieblingsmotive. Deshalb befasst er sich ausgiebig mit der Sinteranlage, auch wenn er sie bereits bei einem anderen Besuch fotografiert hat. „Aber es verändert sich ständig etwas“, sagt er. Das gesamte Werk hat in den vergangenen Jahren mehr Rost angesetzt, herabgefallene Dachbleche lassen Licht in vormals dunkle Bereiche. Dazu kommen die Aktivitäten der Kabeldiebe, die zwar viel zerstören, aber immer wieder auch zuvor verschlossene Zugänge öffnen. Ab und zu bauen die Eigentümer selbst etwas ab, auch wenn kein System dahinter erkennbar ist. So wurde in den vergangenen Monaten ein gigantischer Schiffsdieselmotor aus einer Generatorenhalle abtransportiert. Andere noch verwertbare Bauteile bleiben einfach stehen.
Langsam machen wir uns auf den Rückweg. Dieses Mal nutzen wir die langen Fördertunnel, die oberhalb der Gebäude verlaufen. Bei jedem Schritt wirbelt Staub auf. Schließlich kommen wir durch ein altes Pumpwerk wieder ins Freie. Vorbei an tiefen Materialbunkern, die früher von Schiffen auf der Maas ausgefüllt wurden, geht es zu unserem Einstiegspunkt mit dem Natodraht. Auch die Klettertour zurück gelingt, und hinter uns liegt rostrot ein gewaltiges Industriedenkmal, ein Mahnmal der Vergänglichkeit, ein Abenteuerspielplatz für große Jungs. Au revoir, Haut Fourneau B!