Wo Gott zu Hause ist

Text | Martina Vetter

Foto | Eric Norbom

Ein Wohnhaus, so groß, dass darin ein Gottesdienst stattfinden kann. Ohne Stromanschluss, ohne Internet und ohne Auto vor der Tür. Stattdessen Gaslampen, ein Keller­raum samt eingemachtem Obst, Gemüse oder Fleisch, eine große Scheune mit Pferdestall und Kutsche. So leben die Amish People mitten im 21. Jahrhundert in der ­modernen Konsumgesellschaft der USA. In Pennsylvania liegt eine ihrer größten Ansiedlungen.

Es ist schon fast Ende März, doch der Winter hält Lancaster County fest im Griff. Beinahe zwei Tage lang hat es fast ununterbrochen geschneit. Jetzt liegt die Farm von Lena und David Stoltzfus friedlich und still inmitten der schneebedeckten Hügellandschaft. Das erste Licht des Tages färbt das Weiß des Schnees bläulich-grau. Nur schemenhaft sind die Konturen der umliegenden Gebäude sichtbar.

Pferdehufe klappern durch die morgendliche Stille. David kommt mit seinem Vierbeiner um die Ecke. Es ist erst halb sieben, aber er ist offenbar schon eine Weile draußen zugange, um Pferd und Buggy, wie die Kutschen der Amischen heißen, für die Abfahrt bereit zu machen. Drinnen im Haus kocht seine Frau Lena Kaffee. Ihre Bewegungen sind bedacht und ohne Eile, obgleich sie und David bald aufbrechen müssen zur Hochzeit einer ihrer unzähligen Nichten. Doch wer mit Pferd und Wagen unterwegs ist, so wie die Amish People, zu denen Lena und ihr Mann gehören, in dessen Leben hat Hektik keinen Platz. Einfach Gas geben funktioniert nicht mit einem „Dachweegeli“, wie die kastenförmigen schwarzen Buggys auf Pennsylvania-Deutsch heißen. Zeitig aufstehen und das Tagwerk beginnen ist für die Amischen, die über Jahrhunderte fast ausschließlich als Bauern lebten, dagegen eine Selbstverständlichkeit.

Mit dem Dachweegeli von A nach B

Die Dachweegelis, die von innen gelenkt werden und aufklappbare Frontscheiben haben, sind genauso typisch amisch wie das Pennsylvania-Deutsch, das die ab Beginn des 18. Jahrhunderts aus Deutschland und der Schweiz ausgewanderte christliche Minderheit der Amischen noch heute untereinander sprechen. Die Sprache klingt ein wenig nach einer altmodischen Mischung aus süddeutschem und Schweizer Dialekt, durchsetzt mit englischen Begriffen für Dinge wie chocolate candy oder driver, die keiner der damaligen Auswanderer kannte.

Moderne Wörter wie Tschüss gibt es auf Pennsylvania-Deutsch nicht. Als ein Amisch-Mann an einem Stand in der historischen Markthalle der Stadt Lancaster fragt, „Schwetzscht du deitsch?“, amüsieren wir uns gemeinsam über die unterschiedliche Art, mit der wir uns in der gleichen Sprache ausdrücken. Er verkauft selbstgemachte Marmeladen und eingemachtes Obst und Gemüse und heißt wie unser Gastgeber: David Stoltzfus. Der Name ist unter den Amischen ebenso verbreitet wie Zimmerman, Beiler oder Kinsinger. Da alle Amische von der relativ kleinen Gruppe Auswanderer abstammen und nur innerhalb der Glaubensgemeinschaft geheiratet wird, hält sich die Bandbreite an Nachnamen in Grenzen.

Lena Stoltzfus, die Frau des anderen David Stoltzfus, empfängt uns am Tag nach der Hochzeitsfeier ihrer Nichte in ihrer Küche. Sie und ihr Mann sind unsere ersten Gastgeber auf der Reise und bereit, uns Haus und Hof zu zeigen und unsere vielen Fragen zu beantworten. Auf Englisch, das alle Amische neben ihrer eigenen Sprache fließend sprechen. Der Kaffee ist schon gekocht, die Küche blitzsauber und aufgeräumt, im Gaskamin lodert ein Feuer und es ist angenehm warm. Lena trägt ein weißes Gazehäubchen auf dem Kopf. Es ist in ihrer Glaubensgemeinschaft die typische Kopfbedeckung für Frauen. Dazu ein einfarbiges Kleid, das bis zu den Fußknöcheln reicht, darüber eine schwarze Schürze, die fast das ganze Kleid bedeckt, und eine Strickjacke. Ihr Gesicht ist beinahe faltenfrei, trotz ihrer bald 70 Jahre, ihre Züge sind entspannt, ihr Blick hinter der schlichten Bügelbrille freundlich und wach.

Der eine heißt David Stoltzfus, der andere auch

In ihrer großen Küche wirkt die zierliche Lena ein wenig verloren. Der Raum ist so groß, dass darin jederzeit spontan 30, 40 Leute feiern könnten. Es gibt eine handgeschreinerte Einbauküche mit vielen Schränken und einer meterlangen Arbeitsfläche. Das Wohnzimmer ist noch weitläufiger und könnte glatt als kleiner Ballsaal genutzt werden. Auch hier steht nur wenig Mobiliar. Zwei Sofas, ein Sessel und ein Schaukelstuhl sind an den beiden Kopfenden des Raumes platziert. Dazu ein großer dicker Wollteppich, ein paar Kerzenhalter an der Wand und eine gasbetriebene Stehleuchte mit massivem hölzernem Sockel. Der Rest des Zimmers ist leer. Kein Fernseher, keine Stereoanlage, kein Bücherregal. Und bis auf das Spielzeug für den sechs Monate alten Enkel, der an diesem Tag mit Sohn und Schwiegertochter zu Besuch kommen wird, steht nichts herum.

„Früher“, erklärt Lena, „gab es zwischen Wohnzimmer, Küche und dem Nähzimmer herausnehmbare Trennwände aus Holz. Fast das ganze Erdgeschoss konnte so in einen großen Versammlungsraum verwandelt werden, wenn das Church-Meeting bei uns stattfand.“ Vor einigen Jahren haben sie und ihr Mann für die Hochzeit ihrer Tochter – die Feier findet stets bei den Brauteltern statt – einen Teil der Scheune ausgebaut, um alle Gäste unterbringen zu können. Seither finden auch die Church-Meetings in dem umgebauten Kälberstall statt. Dort gibt es die komplette Infrastruktur für den Gemeindegottesdienst und das gemeinsame Essen danach, inklusive einem Babyraum mit einer alten Holzwiege. Im Wohnhaus haben die Eheleute deshalb mittlerweile feste Wände einziehen lassen.

Church-Meeting, oder in ihrer eigenen Sprache „Gmee“, nennen die Amish People den gemeinsamen Gottesdienst, der Sonntag morgens im Rotationsprinzip jeweils bei einer anderen Familie abgehalten wird. Denn anders als andere religiöse Gruppen haben die Amischen keine gesonderten Versammlungsräume oder Kirchen. Gottesdienste, Trauerfeiern oder Hochzeiten finden normalerweise in den Wohnhäusern statt.

25 bis 40 Familien mit im Schnitt je sieben Kindern gehören zu einem Church District und bevölkern dann das Haus. Wächst die Anzahl der Familien in einem District zu stark, wird ein neuer gebildet. Denn auch wenn die Häuser sehr großzügig bemessen sind, bei mehr als 250 Gästen wird es dann doch etwas eng.

Damit beim morgendlichen Gottesdienst alle Platz haben, werden Bänke aufgestellt. Nach den etwa dreistündigen Andachten, in denen einfache, sehr langsame Lieder aus dem Ausbund, einem alten Gesangbuch, gesungen werden, essen alle Gemeindemitglieder zusammen. Am Sonntagnachmittag geht es mit den Pferde-Buggys auf zu Freunden, zur Familie oder wieder nach Hause, um selbst Gäste zu empfangen. Das Leben der Amish People hat eine feste Ordnung und findet in einer engen Gemeinschaft statt.

Warum Amish People keine Kirchen haben, liegt wie viele andere Dinge, die uns an ihrer Lebensweise heute anachronistisch erscheinen mögen, in ihrer Geschichte begründet. Die Amischen sind eine religiöse Splittergruppe der sogenannten Wiedertäufer, die in der Zeit der Reformation entstanden ist. Den Wiedertäufern gingen die Reformen Martin Luthers nicht weit genug. Ihnen war der als korrupt empfundene Kirchen­apparat mit den prunkvollen Gotteshäusern zuwider, der gelebte Glauben an Gott dagegen umso wichtiger. Die Kirche als Institution gab und gibt es bei den Amischen deshalb nicht.

Auch die Kindstaufe lehnen sie ab. Nach dem in der Bibel überlieferten Vorbild von Jesus Christus lassen sie sich als Erwachsene taufen und orientieren ihr Leben auch sonst an seinem Vorbild, indem sie beispielsweise gewaltfrei leben. Für ihre Überzeugung zahlten früher viele mit dem Leben. In der Schweiz, wo die Bewegung der Wiedertäufer unter der Führung von Menno Simons ihren Ursprung hatte, wurden die später Mennoniten genannten Glaubensbrüder ebenso wie in Deutschland von der etablierten Kirche über Jahrhunderte für ihren Glauben verfolgt, ins Gefängnis gesperrt oder sogar ermordet.

Die Kirche als Institution wird ­abgelehnt, die Kindstaufe auch

Ganz anders in der neuen Welt, namentlich in der damaligen Kolonie Pennsylvania. Dort versprach William Penn Ende des 17. Jahrhunderts als Gouverneur und Angehöriger der in seiner Heimat England ebenfalls verfolgten christlichen Minderheit der Quäker allen Kolonisten die Religionsfreiheit. Nach den ersten Mennoniten folgten bald auch einige Familien der Amischen, jener Gruppe der Wiedertäufer, die sich unter dem Prediger Jakob Ammann 1693 von ihren bisherigen Glaubensbrüdern abgespalten hatte, um den strengeren Glaubensregeln Ammanns zu folgen. Selbst lange verfolgt und unterdrückt, gehörten die Amischen in der Neuen Welt zu den ersten, die sich gegen Sklaverei aussprachen. Und schon lange bevor, ausgelöst durch den Vietnamkrieg, das Motto Make Love not War galt, leisteten Amische Ersatzdienst in Lazaretten, statt für ihr Land in den Krieg zu ziehen.

So fortschrittlich wie die Glaubensgemeinschaft in dieser Hinsicht war, so vehement lehnte sie bestimmte technische Neurungen ab. Bis heute dienen Pferd und Wagen als Transportmittel und die Feldarbeit wird mit Mulis oder Ackergäulen erledigt. Und immer noch verfügen Amish-konforme Häuser über keinen Stromanschluss. In ihrem Gästehaus haben unsere Wirtsleute jedoch einige Steckdosen verlegen lassen. Auch ein paar Lampen gibt es, die mit kleinen Drehknöpfen an- und ausgeschaltet werden können. Lichtschalter an der Wand existieren nicht. Der Strom wird von einer Photovoltaikanlage auf dem Dach erzeugt. Falls der nicht ausreichen sollte, haben uns Lena und David mit einer schreiendgelben, akkubetriebenen LED-Leuchte ausgestattet. Die sind gerade sehr en vogue bei den Amischen und laufen den althergebrachten Gaslampen den Rang ab. „Die Akkulampen sind sicherer“, sagt Lena. Sie sehen aus wie Baustellenleuchten und können wie die Gaslampen an einem der Haken befestigt werden, die im Wohnbereich und der Küche an der Decke angebracht sind.

Im Wohnhaus von Lena und David gibt es tatsächlich keinen Stromanschluss. Trotzdem steht ein großer Kühlschrank in der Küche und im Keller verrichten eine moderne Waschmaschine und sogar ein Wäschetrockner ihren Dienst. Sie sehen ebenso normal aus wie der Kühlschrank, sind allerdings Amish-konform umgebaut und werden mit Hilfe von Gas betrieben. Bei anderen technischen Geräten dienen Hydraulikantriebe oder Dieselmotoren als Alternative zum Strom aus der Steckdose und Akkus werden mit Solarstrom aufgeladen. Amish-Electricity nennen sie das hier selbstbewusst. Und tatsächlich gibt es hier in dem etwa 60 Meilen westlich von Philadelphia gelegenen Lancaster County einige Amish-Betriebe, die gutes Geld damit verdienen, Elektrogeräte umzubauen.

Kühlschrank und Trockner ohne Strom aus der Steckdose

Den ganzen Aufwand zu verstehen, obwohl das Leben viel bequemer sein könnte, ist nicht ganz einfach – zumal die Amish People offensichtlich nicht technikfeindlich sind. Im Gegenteil. Welche Geräte genutzt werden dürfen, hängt jedoch davon ab, ob deren Verwendung dem Erhalt der Gemeinschaft dient oder sie zu zerstören droht. Die Möglichkeiten, die sich beispielsweise mit dem Besitz eines Autos eröffnen, nämlich sich weit von der Gemeinschaft zu entfernen und eigene Wege zu gehen, riefen deshalb die Gemeindeoberhäupter auf den Plan. Das Ausleben von Individualität, die wir als Ausdruck der Persönlichkeit verstehen, ist für Amish People nicht erstrebenswert. Im Mittelpunkt steht für sie stets die Gemeinschaft, in der sie sich gegenseitig helfen und unterstützen und den amischen Grundsätzen gemäß den Glauben leben, dessen Bestandteil ein schlichtes Leben frei von Eitelkeit ist.

Der Besitz eines Autos ist auch deshalb tabu, weil es in der weltlichen Gesellschaft oft ein Statussymbol darstellt. Der freiwillige Verzicht auf Dinge, mit denen sich ein Mensch in Pose setzt, ist Teil des religiösen Selbstverständnisses. Viele Amische wollen aus diesem Grund auch nicht fotografiert werden. Und wer wohlhabend ist, protzt nicht mit teuren Accessoires wie Armbanduhren, modischen Brillen oder Schmuck. Nicht einmal Hochzeitsringe tragen Eheleute wie Lena und David. Bei Männern, denen bei den Amischen die Brautwahl zukommt, erkennt man an dem ungetrimmten Kinnbart, dass sie verheiratet sind. Der Bereich der Oberlippe wird hingegen nach der Hochzeit weiterhin rasiert. Diese Eigenart hat sich aus früherer Zeit bewahrt, als Schnurrbärte typisch für Militärs waren, mit denen die Amischen nichts gemein haben wollten. Auch sonst unterscheiden sich die Amish People äußerlich von ihren Zeitgenossen, indem sie eine einfache uniforme Kleidung tragen oder, wie in Lancaster County, Tretroller mit großen Rädern oder Rollerblades statt Fahrrad fahren oder eben wie eh und je mit Pferd und Buggy unterwegs sind.

Was aber hat dann ein dicker Kombi in die Scheune von Lena und David zu suchen? „Vor 20 Jahren haben wir unsere Arbeit als Milchbauern aufgegeben“, erklärt Lena. Die Konkurrenz zu den immer größer werdenden Farmen anderer Bauern habe es zunehmend erschwert, als Milchbauer zu überleben. Schon einige Zeit, bevor sie ihre Tiere verkauften und das Land an einen Nachbarn verpachteten, hatte Lena begonnen, an einem Marktstand in New Jersey Brezeln und selbst gemachte Eiscreme zu verkaufen, um das Familieneinkommen aufzubessern. Als die Besitzer des Geschäfts sich zur Ruhe setzen wollten, übernahm Lena gemeinsam mit ihrem Mann den Marktstand. Dazu mussten sich die beiden allerdings etwa einfallen lassen, denn um von ihrem Zuhause mit ihren Waren ins über 100 Meilen entfernte New Jersey zu gelangen, brauchten sie ein Auto. Eines zu besitzen, erlaubte die Gemeindeordnung aber nicht. Eines zu leasen dagegen schon. Jetzt mussten sie nur noch einen nicht-amischen Mitarbeiter mit Führerschein einstellen und die Sache war geritzt.

Auch in Pennsylvania gibt es „Gelassenheit“

Das alles klingt umständlich und kompliziert, aber Amish People arrangieren sich, ohne groß zu hadern, mit der Gemeindeordnung oder sie ziehen um in eine Gemeinde, die fortschrittlicher ist. „Gelassenheit“ – so heißt es auch auf Pennsylvania-Deutsch – im Sinne von heiterem Gleichmut gehört ebenso zu den amischen Tugenden wie Schlichtheit, Fleiß oder Ordnung.

Anders als andere religiöse Gruppen werben Amish People nicht um Anhänger außerhalb ihrer Reihen. Und niemand wird gezwungen Amish zu bleiben. Erst als junge Erwachsene, in der Regel im Alter von 16 bis 23 Jahren, findet die Taufe statt. Die Zeit zuvor wird Rumspringa genannt, in diesen Jahren dürfen sich die Jungen ausprobieren und auch ins nicht Amish-konforme Leben hineinschnuppern, also Dinge tun wie ins Kino gehen, Popmusik hören oder ausgelassene Partys feiern, ohne dafür aus der Gemeinde ausgeschlossen zu werden. Das alles ist nach der Taufe vorbei. Oder die Glaubensgemeinschaft wird verlassen.

Doch das ist nicht so einfach, denn die sozialen Bindungen sind sehr eng. „Wir helfen einander und lassen niemandem im Stich“, das ist ein Satz, den wir so oder so ähnlich auf unserer Reise noch manches Mal hören. Wie stark diese Gemeinschaft ist, wird klar, als Lena davon erzählt, wie ihr Haus vor 31 Jahren bis auf die uralten Steinmauern niedergebrannt ist. Eine umgekippte Gaslampe war der Grund für das Feuer: „Die Kinder saßen auf dem Sofa und wollten mehr Licht haben, um in ihrem Buch zu lesen. Ich nahm die Lampe vom Haken an der Decke und stellte sie auf einen kleinen Tisch. Dann ging ich hinaus in den Stall. Es war Zeit zum Melken“, erinnert sich Lena. Nur wenig später habe das innen mit Holz verkleidete alte Steinhaus in Flammen gestanden.

Die Gaslampe setzt das Haus in Flammen

Das alles erzählt Lena mit erstaunlicher Gelassenheit. Sie klagt und jammert nicht über das Unglück, sondern erzählt davon, dass schon am nächsten Morgen mehrere hundert Amish ­People auf den Hof kamen, um beim Aufräumen zu helfen. Auch beim Wiederaufbau des Hauses packten alle mit an. Das notwendige Geld dafür bekamen Lena und David großteils von der sogenannten Church Insurance, einer Art Solidarversicherung, die dazu dient, in Not geratene oder kranke Mitglieder der Gemeinschaft zu unterstützen und in die alle erwachsenen Amischen monatlich einen relativ kleinen Betrag einzahlen. Auf kommerzielle Versicherungen wie eine Brandschutzversicherung verzichten Amish People dagegen. „Das widerspricht unserem Selbstverständnis, für einander da zu sein“, sagt Lena.

Die Ordnung, wie der religiöse Kodex bis heute auf Pennsylvania-Deutsch genannt wird, legen die von allen gewählten, ehrenamtlichen Gemeindeoberhäupter eines Church Districts fest. Zweimal im Jahr beraten diese gemeinsam mit den Oberhäuptern der anderen Districts einer Region, wie beispielsweise mit technischen Neuerungen umgegangen werden soll. Ihre Empfehlung geben sie an ihre Gemeinde weiter, die wiederum demokratisch darüber abstimmt, wie etwas in der Praxis zu handhaben ist. Weil jeder Church District solche Fragen letztlich für sich klärt, gelten deshalb nicht für alle amischen Gemeinden die gleichen Regeln. Während erzkonservative Gruppen in anderen Regionen zum Beispiel das Benutzen von Melkmaschinen ablehnen, sind sie in den Kuhställen der Amischen in Lancaster County erlaubt.

Ob Telefon oder nicht, entscheidet das Gemeindeoberhaupt

Normalerweise werden solche Entscheidungen pragmatisch getroffen. Erlaubt ist, was nötig ist, um die Existenz der Gemeindemitglieder sicherzustellen. David und Lena besitzen deshalb auch Mobiltelefone. Die brauchten sie früher für ihre Geschäftsbeziehungen und jetzt, um für ihre Logiergäste erreichbar zu sein. Ein fest installiertes Telefon im Haus kommt dagegen nicht infrage, und das Handy bleibt außerhalb des Wohnbereichs.

Fast alle Church Districts halten bis heute am Verbot eines festen Stromanschlusses im Haus fest, weil sie ein Auseinanderdriften der Gemeinschaft durch das Benutzen von Geräten wie Radios oder Fernseher verhindern wollen. Und das scheint trotz der mannigfaltigen Reglementierungen zu gelingen. „Die Zahl der Amish People ist in den letzten Jahren sehr stark gewachsen. Sogar im März wird heutzutage geheiratet“, sagt Lena und erklärt: „Traditionell lebten die Amish People vor allem als Farmer, und die haben im Frühjahr und Sommer besonders viel zu tun. Die Hochzeitssaison begann deshalb erst nach der Erntezeit und dauerte den ganzen Herbst.“

Seit den 1950er Jahren hat sich die Zahl der mittlerweile in verschiedenen nordamerikanischen Staaten und im kanadischen Ontario lebenden Amish People alle 20 Jahre verdoppelt auf jetzt etwa 320.000. Es wird also mehr denn je geheiratet, und weil jeder irgendwie mit jedem verwandt ist, müssen manche Amische einen wahren Hochzeitsmarathon hinter sich bringen. In Lancaster County, das mit etwa 70.000 Amish People zu den größten Ansiedlungen der Glaubensgemeinschaft in den USA zählt, finden Trauungen vom Herbst bis zum Beginn des Frühlings statt.

Die Hochzeitfeier ihrer Nichte ist für Lena und David die letzte dieser Saison. „Bis zu 400 Gäste kommen zu so einem Fest, manche nur kurz, weil sie am selben Tag noch zu einer anderen Hochzeit eingeladen sind“, sagt Lena. Geheiratet wird ausschließlich an Dienstagen und Donnerstagen. Der Sonntag bleibt für den Gottesdienst reserviert. Auch sonst läuft bei der Hochzeit manches anders ab, als wir es kennen. Ihr Hochzeitskleid näht sich die Braut beispielsweise selbst. Es unterscheidet sich bis auf eine Schürze aus weißer Gaze nicht vom einfarbigen Alltagskleid mit der schwarzen Schürze. Der Mann trägt wie alle Tage den traditionellen schwarzen Anzug mit Hemd und Weste, nur statt eines Strohhuts den Sonntagshut aus schwarzem Wollfilz. Abgesehen davon, dass die Bekleidung neu ist, besteht kein Unterschied zur Alltagskleidung.

Nachhaltig könnte man das nennen, wie vieles, was typisch für die Lebensweise der Amischen ist, die keine Zeit damit vertun, Kleider zu kaufen oder Konsumgüter anzuhäufen. So hat die eigene Herstellung von Lebensmitteln Tradition, ein Gemüse- und Obstgarten ist auch dann eine Selbstverständlichkeit, wenn man kein Farmer ist. Früchte und Gemüse oder Fleisch werden von den Frauen eingemacht und ein Vorratskeller gehört in jedes Haus. Im Do-it-yourself-Zeitalter liegt das schwer im Trend und Amish-Produkte lassen sich gut vermarkten. Reine Selbstversorger sind die meisten Amish People aber nicht. Wie ihre nicht-amischen Nachbarn kaufen sie auch Lebensmittel im Supermarkt ein. Ein Trend, der sich verstärkt hat, seit anteilig zur wachsenden Zahl der Amischen immer weniger von ihnen ihren Lebensunterhalt als Farmer verdienen, weil Land in Lancaster County knapp und teuer geworden ist.

Schuld an den gestiegenen Preisen sind auch die Touristen. Mehr als acht Millionen Besucher strömen jedes Jahr in diesen Landstrich, dessen Hauptattraktion ausgerechnet die altmodisch gekleideten Amish People mit ihren Buggys sind. „Die Leute besuchen die Gegend und manche entscheiden sich, hier zu bleiben oder sich ein Wochenendhaus in der schönen Landschaft zu bauen. Das treibt die Preise“, sagt David. „Der Film „Der einzige Zeuge“ hat den Touristenboom ausgelöst“, ergänzt Lena und erzählt, wie sich das nicht weit entfernte Örtchen Intercourse verändert hat, seit Hollywoodstar Harrison Ford dort für eine Filmszene am Münztelefon des Drugstores von Zimmermans telefoniert hat. „Aber wir können uns nicht zu sehr über die Touristen beschweren, denn durch sie sind eine Menge neuer Jobs in dieser Gegend entstanden“, sagt sie höflich.

Seit Harrison Ford steigen die Grundstückspreise

Wie es in Intercourse aussieht, zeigt uns Ben Kinsinger, der zweite Gastgeber auf unserer Reise, der zusätzlich zur Vermietung einiger Gästezimmer auch seine Dienste als Guide anbietet. Ben bringt uns zum legendären Shop von Zimmermans, der seit kurzem leer steht. „Hier wird bald der nächste Laden für Touristen eröffnen“, sagt er. Das Gebäude ist ein gemütlich wirkendes Holzhaus mit einer Veranda davor. Davon gibt es viele in Intercourse. Gemütlich ist der Ort allerdings längst nicht mehr. Factory Outlets und Nippesläden haben sich hinter den adretten Holzfassaden breitgemacht und die Bewohner und Geschäfte von früher verdrängt.

Der Run auf das Städtchen hat auch andere Spuren hinterlassen. Über die Hauptstraße von Intercourse tost selbst außerhalb der Saison der Durchgangsverkehr, und beim Anblick der vereinzelten Buggys zwischen dicken Trucks kann es einem angst und bange werden. Ben nimmt uns in seinem Dachweegeli mit zu einer Tour. Der Weg führt an einer für diese Gegend typischen überdachten Brücken vorbei und an der ebenso typisch amischen Schule. Sie ist ein Holzhaus mit einem kleinen Türmchen für die Schulglocke und besteht nur aus einem Raum. Hier werden die in der Nachbarschaft lebenden Sprösslinge aller Altersklassen unter einem Dach unterrichtet und lernen Lesen, Schreiben, Rechnen und etwas Geographie. Nach acht Schuljahren ist Schluss und Jungen und Mädchen beginnen auf der elterlichen Farm oder einem der zahlreichen mittleren und kleinen Betriebe von Amischen zu arbeiten.

„Wir werden niemals Anwälte, Ärzte oder Architekten sein, aber dafür sind wir hervorragende Tischler, Schreiner oder Konstrukteure“, sagt Ben mit Stolz. Er selbst ist wie Lena und David ein Beispiel für die Wandlungsfähigkeit, die Amische auch im fortgeschrittenen Alter an den Tag legen. Als Junge auf einer Farm aufgewachsen, arbeitete er später als Fleischer, sattelte nach einem Unfall um und begann bei einer Firma, die Buggy Rides für Touristen bot.

Unser nächster Halt ist die Farm eines amischen Milchbauern. Hier scheint die Welt noch in Ordnung. Die Tiere haben viel Platz und ausreichend Freilauf. 30 bis 60 Kühe hält ein amischer Bauer. Massentierhaltung verbietet der amische Ethos: Tiere sind ebenso wie Menschen oder Pflanzen Teil von Gottes Schöpfung und müssen mit Respekt behandelt werden. Ben führt uns noch in eine fast 150 Jahre alte Holzscheune mit einem atemberaubenden Rundbogendach. Als Scheunenbauer genießen die Amischen einen besonderen Ruf. Wer je ein Barn Raising gesehen hat, weiß warum. Bis zu 150 Männer ziehen ohne schweres technisches Gerät an einem einzigen Tag gemeinsam eine riesige Scheune hoch. Mit Hilfe von Seilen werden zunächst die Seitenwände aufgerichtet und dann die Querverstrebungen gedübelt. Überall sitzen Männer im Gebälk und hämmern. Die Choreographie ist beeindruckend. Irgendwie weiß jeder, was zu tun ist, damit die ganze Konstruktion am Ende nicht wie ein Kartenhaus zusammenfällt.

Das Barn Raising gehört wie eine Hochzeit oder eine Trauerfeier zu den besonderen Ereignissen im Leben der Amischen. Die Familien aus der Umgebung kommen zusammen, um mitzuhelfen. Die Rollenteilung ist klassisch. Während die Männer bauen, sorgen die Frauen für das Essen und alle feiern zusammen das Gelingen des Projekts. Diesee uralten Tradition folgend sind heute viele Amish People unter Bauleuten, als Schreiner, Zimmerleute oder Möbelbauer zu finden. Nicht zuletzt, weil sie hervorragende und disziplinierte Teamworker sind, bringen sie Bauprojekte schnell voran.

Bauprojekte bringen die Amish schnell voran

Auch das Wohnhaus von Ben und seiner Frau Emma ist in amischer Eigenarbeit gebaut worden. Der Entwurf stammt von einem Schreiner, der quasi das gleiche Haus bereits für Freunde errichtet hatte. Wo immer möglich und nötig, packten die vier Söhne und zwei Töchter von Ben und Emma, Freunde und Verwandte mit an. Und weil in den USA jeder ein Haus entwerfen darf, der sich an die Bauvorschriften hält und einen genehmigungsfähigen Entwurf einreicht, war das Traumhaus mit den typischen herausnehmbaren Holztrennwänden für das Church-Meeting bald fertig.

Im Haus Kinsinger zu Gast zu sein, bedeutet Frühstück um Punkt 8.00 Uhr und ein stilles Tischgebet vor jeder Mahlzeit. Hier leben wir nun wirklich ohne Stromanschluss, doch inzwischen sorgt uns das nicht mehr, weil wir jetzt wissen, dass Amish People hervorragend improvisieren können. Doch wir sehen auch immer wieder amische Jugendliche, die wie ihre Altersgenossen am Smartphone daddeln und die ihnen in vielem fremde Welt erkunden. Und die Zahl der Amischen, die Fahrdienste in Anspruch nehmen, statt sich auf den von Autos überfüllten Straßen der Gefahr eines Unfalls auszusetzen, nimmt weiter zu.

In der Familie von Lena und David Stoltzfus ist die Veränderung ebenfalls angekommen. Zwar entscheiden sich über 90% der jungen Erwachsenen nach ihrer Rumspringa-Zeit für die Taufe und legen das Versprechen ab, nach der Ordnung ihrer Gemeinde zu leben. Lenas und Davids Kinder haben sich jedoch alle gegen die Taufe ausgesprochen und gehören damit nicht mehr zu den Amish People. „Die Kirche der Amischen ist nicht die einzige, der man angehören kann“, sagt Lena und es klingt, als ob sie es so meint. Auf der Fensterbank an ihrem Nähplatz steht ein Teller mit der Aufschrift: „Gott gab mir die Gelassenheit, die Dinge zu akzeptieren, die ich nicht ändern kann, und den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.“

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